Zirkuspädagogik
Im → Circus (als Ort kultureller Sozialisation) scheinen beeindruckend-unaufdringlich Nützlichkeit des Unnützen, Intensität des Flüchtigen, Vergänglichkeit des Seins, Sinn des Zwecklosen und Gegenwelt zur Realität auf. Er spricht alle Sinne an, lehrt das Staunen, beflügelt die Phantasie, entrückt dem Alltag, macht das ‚ganz Andere‘ vorstellbar, bietet neue Eindrücke, bereichert die Erlebnisfähigkeit, gewährt Einblicke in unbekannte Welten, führt spielerisch die Überwindung mancher Grenzen vor und trägt quasi-therapeutisch zur unterhaltsamen Entspannung des Publikums bei.
Während Circus-Didaktik als musische Bemühung auf systematisch-reflektierte Aneignung und Erschließung der ästhetischen Besonderheiten und Umstände der Circuskultur abzielt, macht sich Z durch Imitation und Simulation ausgewählter Aspekte und gelegentliches Aufsuchen der konkreten circensischen Sinnlichkeit die darin liegenden Anregungen und Chancen mit thp Absicht und für anders grundierte pädagogische Zwecke zueigen. So zielt Z primär nicht auf Tradierung von Circuskunst, sondern auf Ausschöpfung mit ihr verbundener Erinnerungen, Ideen und Erwartungen zwecks Bewältigung spezifischer Erziehungs- und Unterrichtsaufgaben.
Schon im ungelenkten kindlichen Spiel des Nachahmens und Ausmalens (einzelner Fragmente) von Artistik werden phantasieanregende Impulse des wirklichen Circus emotional, gestalterisch und intellektuell aufgegriffen, wobei Reproduktion und Virtualisierung zugunsten des Ausdrucks von Darstellungsdrang als konstruktive Bedürfnisbefriedigung, Sublimierung und Spannungsabbau verschmelzen. Z zehrt davon und konzeptualisiert darin und im kulturellen Bezugssystem überhaupt liegende theatralische Möglichkeiten. In der klassischen ThP ist (relativ seltene) Orientierung am Circus mehr Mittel der Motivation oder Einübung basaler theatralischer Ausdrucksformen sowie der Überwindung von Auftrittsscheu als ein Streben nach originalgetreuem Nachempfinden, Aufarbeiten und Vorbereiten von Circuserlebnissen. Sie greift d. R. den Circus als Sujet anhand punktueller Beobachtungen auf und verdichtet diese zu einer Dramaturgie, die dem Aufbau von Cicusshows folgt und einzelne ihrer Bestandteile (vor allem Elemente und Nebenformen der Akrobatik und → Clownerie) nachstellt, phantasierend inszeniert oder im Blick auf Verhaltensstereotypien circensischer Rollenund Präsentationsmuster karikiert. Dabei geht es nicht so sehr um Aufklärung über die Welt des Circus oder um Sympathiewerbung für dieses Kulturgut, sondern um die Aktivierung sinnlich-konkreter Entfaltungspotentiale der Beteiligten als Erweiterung des RollenspielRepertoires und Vorbereitung auf andere Ausdrucksformen der Theatralik.
Auch moderne Z zielt auf aktionale Betätigung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen weniger als Würdigung des Eigenwertes des Circus denn als Nutzanwendung seiner als befreiend gedeuteten imaginativen Kraft – durch szenisches Nachspielen erfahrener oder Antizipation vermuteter Circuswirklichkeit als Ausleben auf Circus bezogener oder auf ihn umgelenkter Wunschträume. Doch hat sie andere Absichten und Funktionen als die klassische ThP zum Thema. Diese erwachsen zumeist aus zeitgenössischen Anforderungen der jeweiligen erzieherisch-unterrichtlichen Kontexte:
– Anlehnungen an Circusakrobatik sind motivierend für den Sportunterricht. Sie durchbrechen z. B. → Rituale von Turnen und Wettbewerb zugunsten einer – womöglich produktorientiert auf Vorstellungen hinauslaufenden – komplexen Kooperationsherausforderung, in der das Training von Bewegungsabläufen und Kondition sich mit Darstellungsmöglichkeiten ebenso verbindet wie Gesundheitsförderung mit vergnüglichem Tun.
– In der Sonder- und Heilpädagogik erleichtert das Hineinschlüpfen in circensische Rollen die Überwindung körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen sowie von Ängsten und Krankheitsphasen. Es ermöglicht die Integration unterschiedlicher Fähigkeiten, indem z. B. Sprachgestörte sich akrobatisch ausleben und Körperbehinderte durch Herstellung von Kostümen oder Requisiten zu gemeinschaftlicher Leistung beitragen.
– In der→ Erlebnis – und Freizeitpädagogik sprengen Circus-Imitation und -Simulation Grenzen schulischen Unterrichts, weil sie stärker als üblicher Unterricht viel oder ganzheitliche Anforderungen stellen. Die Übernahme einzelner, mehrerer oder wechselnder circensischer Rollen kommt z.B. Bewegungsdrang, Planungsverhalten, Darstellungslust, technischen Fähigkeiten und ästhetischem Streben gleichermaßen entgegen.
– Der Sozialpädagogik bieten reproduktive, imaginative und produktorientierte Bezugnahmen auf das Circustreiben Möglichkeiten zur Kompensation, Konzentrationsförderung, Gruppenbildung und Inverantwortungnahme für gemeinsame Vorhaben. Spielerisch werden z.B. das Gefühlsleben intensiviert, Zielstrebigkeit verbessert, das Aufeinanderangewiesensein eingeübt und individuelles Selbstbewußtsein im Kollektiv gestärkt.
In der Z-Praxis durchdringen sich absichtsvoll oder beiläufig die verschiedenen Dimensionen der Circusbezüge zugunsten eines integralen Wirkungszusammenhangs, der über die thp und sonstige Basis hinausweist und Eigenbedeutung gewinnt. Das liegt u. a. daran, daß Z am besten und i. d. R. als Projektarbeit veranstaltet wird, bei der alle Chancenelemente der Simulation und Imitation von Circus(artistik) tragfähig werden und spezifische erzieherisch-unterrichtliche Intentionen nur einzelne Akzente setzen. Besondere Intensität entfaltet der Projektansatz, wo Z nicht auf einzelne Phasen oder Felder pädagogischer Arbeit reduziert bleibt, sondern – wie bei mittel- und langfristig betriebenen Kinder- und Jugendzirkussen – als institutionalisierter Handlungs und Organisationszusammenhang betrieben wird. Solche Einrichtungen bedeuten – mit teils schon semi-professioneller Reife und Existenzsicherung für gefährdete Heranwachsende – eine realitätsbezogene Perfektionierung der Grundideen der Z dergestalt, daß sie den ästhetischen Spielbetrieb zeitweilig zum Lebens- und Arbeitsraum ausdehnen sowie vielfältige Zusammenarbeit und gemeinschaftliche Eigenverantwortung der Beteiligten sinnstiftend nötig machen.
Einerseits besteht der Herkunft und Zwecksetzung der Z nach die Gefahr von Verballhornung und Instrumentalisierung der Circuskultur oder gar einer Konkurrenz zu ihr, wenn Z-Projekte für CircusEigentlichkeit gehalten bzw. Kinder- und Jugendzirkusse gegenüber kommerzieller Circuskultur bevorzugt werden. Andererseits weckt Z oft weiterführendes Interesse am Circus, in dessen Ausagieren auch die Grenzen amateurhafter Umtriebe deutlich werden. Insofern ist Z kein Ersatz für Bildungsarbeit im Sinne von → Circus-Didaktik, doch bietet sie, zumal bei Problembewußtsein der Verantwortlichen, gute Anknüpfungsmöglichkeiten dafür. Verstärkt wird das durch Z-Projekte in Kooperation mit professionellen Circusbetrieben und unter Anleitung von Circusartisten. Sie nämlich erleichtern kontaktreiche Einblicke in das reale Circusleben, mit denen Expertenkönnen unmittelbar verfügbar wird und Respekt erfährt. So kann Z über primäres Anliegen hinaus der Existenz der Circuskultur, der Anerkennung ihrer Würde und auch der ThP insgesamt dienen.
Claußen, Bernhard: Circus. Medium, Gegenstand und außerschulischer Ort lustbetonten Lernens. In: Claußen, Bernhard/Tetzlaff, Reinhard (Hg.): Circus in Hamburg. Hamburg 1982; Hoyer, Klaus (Hg.): AOL-Zirkus. Lichtenau 1993; LAG Spiel und Theater Berlin (Hg.): Zirkus olé. Berlin 1998; Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Niedersachsen (Hg.): Salto Vitale. Unna 1993; Winkler, Gisela (Red.): Dokumentation des Internationalen Kongresses der Kinder- und Jugendzirkusse und des Internationalen Festivals der Kinder- und Jugendzirkusse. Berlin 2000.
BERNHARD CLAUSSEN
→ Circus / Circus-Didaktik – Didaktik – Kulturelle Bildung – Projekt – Prozess und Produkt – Rehabilitation – Theatralität – Zielgruppe