„Als-ob“
Mit „A-o“ wird der Grundvorgang bezeichnet, eine Rolle zu übernehmen, ein „A-o“-Verhalten zu üben. Dieser Grundvorgang – sich in eine andere Person hineinversetzen zu können – ist als mentale Voraussetzung aller Kommunikation inhärent. Weiterhin bezeichnet „A-o“ den Grundcharakter der spielerischen sowie der schauspielerischen Darstellung. Es wird auch mit als wenn identifiziert – so spricht → Stanislawski vom ,magischen Wenn‘ als der Grundlage des schauspielerischen Rollenhandelns. Die Illusion wird berührt und häufig auch damit verwechselt. Es bildet einen Grundbestandteil der Konvention des Theaters, der unausgesprochenen Verabredung, dass die Zuschauer alles, was auf der Bühne geschieht, als „A-o“Situation erkennen und akzeptieren (woraus folgt, dass sie etwa einen Mord nicht zu verhindern versuchen, wie es im Leben der Fall wäre). Auch in der Rezeptionstheorie des Theaters spielt das „A-o“ eine Rolle, insbesondere bei der Frage nach der Identifikation des Zuschauers, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Zuschauer empfindet, als ob er das Objekt der Identifikation (die Rolle) sei (vgl. Freud).
Das „A-o“ – so eindeutig es auf den ersten Blick erscheinen mag – wirft eine Reihe interessanter Fragen auf, so die nach der Wahrheit theatraler Gestaltung und der Authentizität von Rollenhandeln und dem spezifischen Charakter des Mediums Theater.
Das sprachliche als ob entspricht in der Bedeutung der Wendung als wenn. Umgangssprachlich werden mit als ob in der Regel irreale Vergleichssätze formuliert. Zwei unterschiedliche Vorgänge werden in einer Verknüpfung miteinander ausgedrückt: ,Er sah aus, als ob er krank sei.‘ Damit wird gesagt: Er ist nicht krank, aber er sieht einem Kranken ähnlich oder zeigt Anzeichen von Krankheit. Das eben ist der Grundvorgang der spielerischen und theatralen Darstellung: etwas zu tun, zu sein, zu zeigen, das zugleich nicht getan wird und nicht existiert, also negiert wird. Damit ist die doppelte Wirklichkeit des Mediums Spiel und Theater getroffen: Alles, was auf der Bühne oder im Spiel geschieht, geschieht zugleich nicht in Wirklichkeit, es geschieht nur als Zeichen – und dennoch ist der Schauspieler lebendig und wirklich im Prozess des Agierens auf der Bühne präsent. Es handelt sich um die Doppeltheit von Sein und Bedeuten, Performanz und Repräsentation.
Als Ausdruck des theatralen Doppelcharakters ist das „A-o“ auf den ersten Blick an das Konzept der Nachahmung, der Ähnlichkeit von Theater und Leben gebunden. So ist davon die Rede, wenn es um die Wahrscheinlichkeit der Bühnendarstellungen und ihre Glaubwürdigkeit geht. In Theaterkonzeptionen, die den Wirklichkeitsbegriff erweitern wollen, indem Vorstellungsbilder, Träume und Phantasmen auf die gleiche Stufe gestellt werden wie die Realität (Artaud, Grotowski), verliert das „A-o“ seine zentrale Rolle. Dennoch bezeichnet es auch in diesen Theaterkonzeptionen den Grundvorgang des Mediums (nämlich zu fingieren) und seinen ontologischen Status (nämlich nicht die Realität selbst zu sein, aber zu ihr zu gehören).
Sowohl spielwie thp Praxis sind ohne das „A-o“ nicht denkbar. Mit der Grundregel des Spiels – ,Handle so, als ob!‘ – ist die Grundlage der Improvisation und der Rollenarbeit des Schauspielers beschrieben. In dem Augenblick, wo in eine Handlung das Wenn oder das „A-o“ treten, erfährt das reale Leben eine gedankliche Umschaltung auf die Ebene der Vorstellung. Von daher spricht man auch vom ,magischen Wenn‘. „Solange dieses Wort wenn fehlt, hat die Kunst noch nicht begonnen […], das Wenn versetzt der schlummernden Phantasie einen Stoß“ (Stanislawski 1958, 142 u. 1983, Bd. 1, 58).
Bis heute liefern die Anregungen aus dem Stanislawski-System die fundierteste Grundlage sowohl für professionelle wie für thp orientierte Rollenarbeit. Die Arbeit mit dem „A-o“ dient dazu, Klischees und Kitsch in der theatralen Darstellung zu vermeiden und die Glaubwürdigkeit von Vorgängen auf der Bühne zu stärken. Obwohl zunächst im Dienste des Naturalismus entwickelt, bilden Stanislawskis Schauspieltechniken heute die Grundlage der professionellen Schauspielerausbildung und haben auch eine Weiterentwicklung und Einbeziehung in anti-illusionistische Theaterkonzeptionen wie die Brechts gefunden oder in Konzeptionen, die weder der Literatur noch dem Konzept von Realismus und Nachahmung verpflichtet sind, wie z. B. die Grotowskis.
In Stanislawskis System dienen das „A-o“ und das ,magische „A-o“‘ in verschiedenen Stufen der Verbindung von Imagination und Handlung. Es steht im Dienst der vom Naturalismus geforderten Wahrheit und Glaubwürdigkeit der theatralen Gestaltung. Stanislawski warnt vor der unmittelbaren Gefühlswiedergabe auf dem Theater, der Einfühlung in die Rolle.
Wahrhaftigkeit der Darstellung erlangt der Schauspieler, indem er seine Rolle mit einer Folge präziser und folgerichtiger Handlungen verbindet. Diese bilden gewissermaßen die ,dramatische Partitur‘ der Rolle. Interessanterweise wird mit dem „A-o“ gerade das Problem des Vortäuschens vermieden: Etwas geschieht wirklich; es findet eine wirkliche Handlung unter fiktiven Umständen statt, die durch das „A-o“ konstituiert werden. Damit ist die Voraussetzung der Glaubwürdigkeit schauspielerischer Gestaltung für den Zuschauer geschaffen, der in seiner Rezeption in eine neue Ebene des „A-o“ eintritt.
Für den Schauspieler stellen das Wenn und „A-o“ zunächst zwei Stufen in dem Vorgang der Aktivierung des Gefühls dar, das zum Handeln führt. Mit der Frage ,Wie würdest du handeln, wenn du Othello wärst, wenn du als Othello in dieser Situation wärst?‘, wird die aktive Vorstellungskraft angeregt und angelockt. Von hier aus kommt der Schauspieler zum ,Ich will‘. Wenn der Schauspieler nun nach dieser seiner Vorstellungskraft und seinem Willen handelt, dann handelt er im „A-o“: ,Ich will handeln, als ob ich Othello wäre‘, heißt die neue Stufe. Er wird die vorgeschlagenen Situationen als gegebene Umstände annehmen, so, als ob sie Wirklichkeit wären. Die bekanntesten Übungsbeispiele hierfür sind: ,Nimm den Aschenbecher, als ob er ein Frosch sei! Nimm den Handschuh, als ob er eine Maus sei!‘ oder ,Trink aus dem Glas, als ob darin Gift sei!‘
Die Forderung heißt nicht: ,Glaube, dass hinter der Tür ein Wahnsinniger steht!‘, sondern: ,Was würdest du tun, wenn dort ein Wahnsinniger stünde? Welche Handlungen folgen aus der Grundannahme?‘ So führt das „A-o“ den Schauspieler zu einer begründeten Handlung. In der Nachfolge von Stanislawski definiert Lee Strasberg (1988) Schauspielen ausdrücklich nicht als Fähigkeit der Nachahmung – wie die Tradition von Aristoteles über Diderot und Riccoboni nahe legt –, sondern als die wichtige Fähigkeit, auf imaginäre Reize zu reagieren.
In seiner letzten Schaffensperiode entwickelt Stanislawski mit der Technik der physischen Handlungen eine weitergehende Methode, dem „A-o“ größere Evidenz zu geben. Nicht Imagination und Gefühl, sondern die körperlich vollzogene Handlung stehen nun im Zentrum der schauspielerischen Technik. „Das seelische Material, aus dem sich die Darstellung des Schauspielers speist, ist nicht stabil. Physische Aufgaben dagegen werden durch den Körper ausgeführt, der unvergleichlich stärker ist als unser Gefühl.“ (Stanislawski 1958, 121) Körperliche Vorgänge sind stabiler und leichter festzuhalten, sie erleichtern auch das Memorieren. Damit ist bereits die Arbeitsmethode Jerzy Grotowskis vorweggenommen, der denn auch die letzten Jahre seiner Theaterarbeit den physischen Handlungen Stanislawskis gewidmet hat (vgl. Richard).
Grotowski entwickelt in der Auseinandersetzung mit Artaud, dem balinesischen Tanz, dem indischen Kathakali-Theater und der Kenntnis des StanislawskiSystems eine Arbeitsmethode für den Schauspieler, in der das „A-o“ (als die gegebenen Umstände nach Stanislawski) gewissermaßen in den Körper verlagert wird. Damit werden dann das magische „A-o“ und auch der Begriff der Rolle obsolet. Im Theater werden Partituren gezeigt, Kreationen, die keinem Vorbild folgen, die weder nachahmen, noch illustrieren. Damit löst Grotowski folgerichtig das Theater als Ort der Repräsentation auf und nähert sich in seinen Arbeiten den Erfahrungsformen von Kult und Ritual (paratheatralische Projekte). Auch die → Performance-Kunst reduziert das „A-o“, indem sie den Focus auf den Vollzug realer Handlungen (Performanz) legt: ,real actions in real time‘.
Das „A-o“ funktioniert auch als Grundvoraussetzung für die Theaterrezeption. Der Zuschauer reagiert auf die Vorgänge auf der Bühne emotional in einer Weise, als ob es sich dabei nicht um künstlich erzeugte Fiktionen handelt: Seine Gefühle der Freude, des Mitleids und des Schreckens sind real, auch wenn sie bloßen Fiktionen gelten. Mit diesem Problem setzte sich → Brecht immer wieder auseinander, wenn er das Verhältnis von Einfühlung und Distanz zu bestimmen suchte. Auch in der ethnologischen Diskussion über Funktion und Status von Ritualen und rituellen Praktiken spielt die Frage nach dem „A-o“ eine zentrale Rolle. Muss der Schamane das Tier, das er darstellt, verkörpern oder reicht es, Zeichen und Gesten zu verwenden? Wie beim Theater stellt sich die Frage: Wie können künstlich erzeugte Darstellungen reale Gefühle auslösen oder wie im Ritual soziale Transformationen bewirken?
Heute wird die Frage nach dem ontologischen Status theatraler Darstellungen und Inszenierungen (leider) weitgehend ausgeklammert, indem man Theater als Kommunikationssystem behandelt. Die Forschung befasst sich bis auf wenige Ausnahmen mit zeichentheoretischen, rezeptionspsychologischen oder kognitionswissenschaftlichen Konzepten. Im Groben betrachtet kommen dabei die historisch entwickelten Positionen immer wieder ans Licht: Theater entweder der Sphäre des Scheins (Aristoteles, Schiller) zuzuordnen oder es auf der anderen Seite als spezifische Realität zu definieren (Nietzsche, Artaud, Craig). In der neueren theaterwissenschaftlichen Diskussion verlagert sich der Untersuchungsschwerpunkt zusammen mit einer kulturwissenschaftlichen Orientierung (cultural performances) auf das Performative. Dabei treten die bisherigen Gesichtspunkte wie Verstehen und Wahrnehmen zugunsten von Handlung in den Vordergrund des Interesses. Die Frage der Authentizität und des „A-o“ gewinnt damit neue Brisanz. Diese Entwicklungen sind nicht zuletzt von der Performance-Kunst angeregt, die zunächst als Absage an das „A-o“ entwickelt worden ist (vgl. Fischer-Lichte), aber letztlich dem Doppelcharakter des Mediums nicht entgehen kann.
Ebert, Gerhard/Penka, Rudolf (Hg.): Schauspielen. Handbuch der Schauspieler-Ausbildung. Berlin 1998; FischerLichte, Erika: Verwandlung als ästhetische Kategorie. In: Dies./Kreuder, Friedemann/Pflug, Otfried (Hg.): Theater seit den 60er Jahren. Tübingen, Basel 1998; Freud, Siegmund: Psychopathische Personen auf der Bühne. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 10. Frankfurt a. M. 1982; Rellstab, Felix: Stanislawski-Buch. Wädenswill 1992; Richard, Thomas: Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen. Berlin 1996; Spolin, Viola: Improvisationstechniken für Pädagogik, Therapie und Theater. Paderborn 1997; Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. 2 Bde. Berlin 1983; Ders.: Aus dem Nachlass. Von den physischen Handlungen. In: Ders.: Theater, Regie und Schauspieler. Hamburg 1958; Strasberg, Lee: Schauspielen und das Training des Schauspielers. Hg. v. Wolfgang Wermelskirch. Berlin 1999.
INGRID HENTSCHEL
→ Dramaturgie – Inszenierung – Kommunikation – Regie – Theater als öffentliche Institution – Theaterhistoriographie – Theaterwissenschaft – ZuschauSpieler