Ästhetische Bildung

Ästhetik, aus dem Griechischen aisthesis, heißt soviel wie sinnliche Wahrnehmung, aber auch Sinnwahrnehmung. Im Gefolge A. G. Baumgartens, der Mitte des 18. Jhs. die Ästhetik als eine Teildisziplin der Philosophie begründete, die sich auf die sinnliche Erkenntnis und das Schöne bezieht, wird – im engeren Sinne – Kunst zum Gegenstand der Ästhetik (vgl. Ritter). Entsprechend wird ÄB in der Fachliteratur mehrdeutig verwandt: sowohl im weiten Sinne von Wahrnehmungserziehung, Bildung der Sinne u. ä. (vgl. u. a. Otto; Meyer-Drawe; Welsch) als auch im engeren Sinne als Bildung durch die wahrnehmende und gestaltende Auseinandersetzung mit Kunst (vgl. Mollenhauer 1988ff.; Hentschel 1999; Weintz). Zum Teil wird zwischen aisthetischer Bildung/Erziehung (bezogen auf Wahrnehmung allgemein) und ästhetischer Bildung (bezogen auf Kunst und künstlerische Gestaltung im Besonderen) unterschieden (vgl. Hentschel 1999). Diese Unterscheidung hat sich allerdings nicht allgemein durchgesetzt.

Die bildungstheoretische Frage nach der Bedeutung von Kunst bzw. künstlerischer Tätigkeit für den Bildungsprozess des Menschen wurde erstmals von Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen (1795) systematisch gestellt. In Anlehnung an die Autonomieästhetik Kants weist Schiller jede Form der Verzweckung von Kunst für moralische oder theoretische Bildung zurück. Aufgabe der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk ist es nach Schiller, Sinnlichkeit und Vernunft (Stoff- und Formtrieb) in einem dritten Zustand, den er den ‚ästhetischen‘ nennt, zu vereinigen. Dieser Zustand der Harmonie wird jedoch als nicht zu verwirklichende Idee – als Utopie – kenntlich gemacht. Schiller verzichtet ausdrücklich auf jede inhaltliche Festlegung der Wirkung ÄB. Gerade deshalb sei damit ,Unendliches erreicht‘, nämlich die Befähigung des Menschen zur Selbstbestimmung durch Selbsttätigkeit. Die ÄB wird damit – und in der Folge für die neuhumanistische Bildungstheorie allgemein – zum Inbegriff von Bildung überhaupt.

Die von Schiller begründete bildungstheoretische Diskursfigur der ÄB hat im Laufe der Zeit vielfältige Umformulierungen erfahren. Zu Beginn des 20. Jhs. wurde sie im Gefolge der Jugendbewegung zur ‚musischen Erziehung‘ mit vorwiegend moralischen und sozialen Zielsetzungen (Gemeinschaftserziehung). Die musische Bildung knüpfte – u. a. mit der Praxis des Laien- und des Schulspiels – in den 1950er Jahren an diese Tradition an. Eine Neudiskussion der ästhetischen Erziehung Ende der 1960er Jahre fand vor allem innerhalb der Fachdidaktik der Bildenden Kunst statt. Sie führte zu verschiedenen Ansätzen politisch-ästhetischer Erziehung (vgl. v. Hentig; Kerbs), die für eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs auf Alltagsphänomene (Medien, Gebrauchsgegenstände u. a.) plädierten. Damit ist eine Ausweitung auf eine allgemeine Wahrnehmungserziehung verbunden, die in den Konzeptionen der ‚Visuellen Kommunikation‘ (vgl. Ehmer) und der ‚politischen Erziehung im ästhetischen Bereich‘ (vgl. Giffhorn) so weit geht, dass die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Gegenstand vollständig hinter die ideologiekritische Funktion der Aufklärung über Alltagsphänomene zurücktritt. Nach der erfolgreichen Eskamotierung der Kunst aus der ÄB (hier besser: aisthetischen Bildung) lassen sich ihre Zielsetzungen und Methoden von denen der politischen, moralischen Erziehung oder auch der theoretischen Unterweisung nicht mehr  unterscheiden.

Im Anschluss an die Postmodernediskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft seit Mitte der 1980er Jahre lässt sich von einer erneuten Konjunktur der ÄB sprechen. Die besondere Funktion, die der Kunsterfahrung als Modell für die Erfahrung einer heterogen und plural konstituierten Gesellschaft zugesprochen wird, lässt sie als Bildungsgegenstand besonders geeignet erscheinen. Damit wird einerseits eine weitere Phase der Begriffsdiffundierung eingeleitet: das Herausbilden eines ästhetischen Denkens als Antwort auf eine immer künstlicher werdende Wirklichkeit angestrebt (vgl. Welsch). Zum anderen wird eine Rückbesinnung auf die klassischen bildungstheoretischen Ansätze ÄB angestoßen sowie eine kritische Befragung ihrer vielfältigen Praxis pädagogischer Verzweckung ÄB (vgl. Mollenhauer 1988, 1990; Koch u. a.; Hellekamps).

Hier knüpfte auch die Diskussion der ÄB innerhalb der ThP in den 1990er Jahren an und wandte sich damit– nach einer längeren Phase, in der das soziale Lernen im Mittelpunkt thp Arbeit stand – der Kunst des Theaters als Bildungsgegenstand zu.

Geht man mit Mollenhauer davon aus, dass ÄB in einem ,Zwischenfeld‘ anzusiedeln sei „zwischen dem Bewußtwerden eigener Sinnlichkeit und den kulturell semiologischen Symbolrepertoires“ (Mollenhauer 1988, 458), so lässt sich als Grundlage ÄB der Prozess ansehen, der zwischen dem wahrnehmenden und gestaltenden Subjekt und den künstlerischen Objekten/ Ereignissen, mit denen es sich auseinander setzt, stattfindet. Orientierungspunkte der ÄB innerhalb der ThP sind dann zum einen die spezifischen Bedingungen theatraler Gestaltung und zum anderen – in bildender Absicht – die besonderen Erfahrungen, die die nichtprofessionellen Akteure mit diesen Gestaltungsformen machen können (vgl. Hentschel 1999). Damit ist ein weiterer Perspektivenwechsel verbunden. ÄB orientiert sich weder an materialen Bildungstheorien, noch versteht sie – im Sinne formaler Bildung – Theater als ‚Übungsstoff‘ für bestimmte anzustrebende Fähigkeiten der Akteure. Es steht nicht länger die referentielle Funktion von Darstellung und Gestaltung (das, was vermittelt wird, die Bedeutung) im Zentrum thp Arbeit, sondern die performative Funktion, die Art und Weise der Gestaltung und die Erfahrungen, die mit diesem Gestaltungsprozess gemacht werden (vgl. Fischer-Lichte).

Als wichtige Grundlage für die Praxis ÄB in der ThP können Künstlertheorien angesehen werden. In ihnen werden die spezifischen Kennzeichen szenischen Produzierens und die damit verbundenen Erfahrungen als reflektiertes Handlungswissen dargestellt. Im Anschluss an diese spezifischen Kennzeichen theatralen Produzierens – z. B. spielerisches Konstrukt einer zweiten Wirklichkeit, Unablösbarkeit des gestalteten Produkts vom gestaltenden Produzenten und damit verbundenes Doppel von Spieler und Figur – lassen sich zwar Bildungsmöglichkeiten vermuten, wie z. B. die Ausbildung von Erfahrungsfähigkeit, Selbstreflexivität und Ambiguitätstoleranz, die  Einsicht  in  Mechanismen sozialer Konstruktion und in die Unmöglichkeit der Abbildung von Wirklichkeit (vgl. Hentschel 1999), es lassen sich allerdings keine inhaltlichen Zielbestimmungen  ÄB vornehmen.

Hier setzt auch die Kritik am Diskurs der ÄB an. Die ‚Versprechungen des Ästhetischen‘ (vgl. Ehrenspeck 1998) lassen sich innerhalb der Bildungstheorie seit dem ausgehenden 18. Jh. aufzeigen. Sie verflachen dort, wo ÄB zum Sozialisationsinstrument mit unterschiedlichen Zielsetzungen wird. Sie legitimieren sich und ihr Fortbestehen jedoch selbst, dort, wo sie ihre prinzipielle Uneinlösbarkeit, ihren utopischen Charakter betonen und die ästhetischen Erfahrungen als Grundlage von ÄB in ein Feld des Unsagbaren, Numinosen, des ‚Übergangs‘ oder des ‚Zwischen‘ verlegen. Der empirische Nachweis der Wirkungen ästhetischer Erfahrungen und damit der Möglichkeit von ÄB ist gegenwärtig noch nicht erbracht (vgl. Ehrenspeck 2001). Es bleibt auch fraglich, ob ein solcher Nachweis mit den Methoden empirischer Forschung möglich ist (vgl. Mollenhauer 1996).

Damit wird eine Aporie ÄB, die sich bereits bei Schiller andeutet, evident. Entweder wird ÄB für nicht-ästhetische Zwecke vereinnahmt oder aber ihre Wirksamkeit bleibt unbewiesen und sie muss sich dem Ästhetizismusverdacht aussetzen. Denn bestimmt man – autonomieästhetisch – ästhetische Erfahrung aus der Differenz gegenüber Alltagserfahrung und ÄB im Unterschied zur moralischen, politischen oder theoretischen Bildung, so liegt der Vorwurf des Purismus nahe (vgl. Menke). Es scheint eines der wesentlichen Kennzeichen ÄB zu sein, dass sich diese Aporie nicht auflösen lässt, analog zu den vergeblichen Anstrengungen der künstlerischen Avantgarden seit Beginn des 20. Jhs., die sich immer wieder um eine Überwindung der Kluft zwischen Kunst und Leben bemühten.

Ehmer, Hermann K.: Visuelle Kommunikation. Beiträge zur Kritik der Bewußtseinsindustrie. Köln 1971; Ehrenspeck, Yvonne: Versprechungen des Ästhetischen. Die Entstehung eines modernen Bildungsprojekts. Opladen 1998; Dies.: Stichwort Ästhetische Bildung. In: Zs. für Erziehungswissenschaft, 2001, H. 1; Fischer-Lichte, Erika: Verwandlung als ästhetische Kategorie. Zur Entwicklung einer neuen Ästhetik des Performativen. In: Dies./ Kreuder, Friedemann/ Pflug, Isabel (Hg.): Theater seit den 60er Jahren. Tübingen 1998; Giffhorn, Hans: Kritik der Kunstpädagogik. Zur gesellschaftlichen Funktion eines Schulfaches. Köln 1972; Hellekamps, Stephanie (Hg.): Ästhetik und Bildung. Das Selbst im Medium von Musik, Bildender Kunst, Literatur und Fotografie. Weinheim 1998; Hentig, Hartmut von: Über die ästhetische Erziehung im politischen Zeitalter.  In: Ästhetische Kompetenz Die Deutsche Schule, 1967, H. 10; Hentschel, Ulrike: Was soll das Theater? Der Beitrag von Spiel und Theater zu einer intermedialen ästhetischen Bildung. In: BDK-Mitteilungen, 1999, H. 3; Dies.: Theaterspielen als Ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung. Weinheim 2000; Kerbs, Dieter: Ästhetische und politische Erziehung. In: Kunst und Unterricht, 1968, H. 1; Koch, Lutz/Marotzki, Winfried/Peukert, Helmut (Hg.): Pädagogik und Ästhetik. Weinheim 1994; Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a. M. 1991; Meyer-Drawe, Käte: Ästhetische Rationalität. In: Kunst + Unterricht, 1993, H. 17; Mollenhauer, Klaus: Ist ästhetische Bildung möglich? In: Zs. für Pädagogik, 1988, H. 4; Ders.: Bildung, ästhetische. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Pädagogische Grundbegriffe. 2 Bde. Reinbek 1989; Ders.: Die vergessene Dimension des Ästhetischen in der Erziehungsund Bildungstheorie. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik? Darmstadt 1990; Ders.: Über die bildende Wirkung ästhetischer Erfahrung. In: Lenzen, Dieter (Hg.): Verbindungen. Weinheim 1993; Ders.: Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Weinheim 1996; Otto, Gunter: Über Wahrnehmung und Erfahrung. Didaktik, Ästhetik, Kunst. In: Kunst + Unterricht, 1993, H. 171; Ritter, Joachim: Ästhetik, ästhetisch. In: Ders./Gründer, Karlfried: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Darmstadt 1971; Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke. 5 Bde., Bd. 5: Erzählungen. Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. München 1989; Weintz, Jürgen: Theaterpädagogik und Schauspielkunst. Ästhetische und psychosoziale Erfahrungen durch Rollenarbeit. Butzbach-Griedel 1998; Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990.

ULRIKE  HENTSCHEL

Ästhetischer  Wert  –  Konstruktivismus  –  Lebensbegleitendes Lernen – Reformpädagogik – Theatralität – Volkskunst / Folklore – ZuschauSpieler