Beobachten / Beschreiben / Bewerten

Beobachten ist Ausdruck des praktischen Verhältnisses des Menschen zu der ihn umgebenden Welt und zugleich eine wichtige, auf sinnlicher Wahrnehmung beruhende Erkenntnismethode. Beschreiben ist die geordnete und systematische verbale Darstellung von Sachverhalten, zum Beispiel von Beobachtungsergebnissen. Die Beschreibung bildet den Ausgangspunkt für die auf Erkenntnis zielende Analyse der beobachteten Sachverhalte. Der Analyse kann sich eine zusammenfassende Bewertung anschließen, die Gewichtigkeit und besondere Qualität des Sachverhaltes formuliert. Im thp Zusammenhang kann dieser Erkenntnisprozess in zweierlei Hinsicht relevant sein. Zum einen bei der thp Begleitung eines Theaterbesuchs (Vor- und Nachbereitung) und zum anderen bei der thp Anleitung und Begleitung von spielerisch-darstellerischen Prozessen (thp Übungen, Improvisation, szenische Arbeit, Inszenierung).

Theater sehen: Beobachten, Beschreiben und Interpretieren sind die drei Schritte, die bei der thp Nachbereitung des Besuchs einer Theateraufführung eine wesentliche Rolle spielen. Die Beobachtung als erster Schritt wäre identisch mit der Rezeption des Werkes: Die Aufführung wird wahrgenommen. Der Prozess der Rezeption muss mit großer Aufmerksamkeit geschehen, und bei der Beobachtung der Aufführung können einzelne Aspekte der Inszenierung besonders beachtet werden. Als Leitfaden für diese Beobachtung eignet sich eine Übersicht der Zeichensysteme im Theater. Nach Christopher Balme, der sich seinerseits auf eine Systematisierung theatraler Zeichen von Tadeusz Kowzan aus dem Jahr 1968 bezieht, werden die Zeichensysteme nach der Art ihrer Wahrnehmung durch die Sinne in visuelle auf die Darsteller (Mimik, Gestik, Bewegung, Schminke, Frisur, Kostüm) bzw. den Raum (Requisiten, Bühnenbild, Beleuchtung) bezogene Zeichensysteme und in darsteller- und raumbezogene akustische Zeichensysteme (Sprache, Ton, Musik, Geräusche) unterschieden (vgl. Balme 62).

Diese Zusammenstellung der grundlegenden Zeichensysteme auf der Bühne kann bei der Beobachtung und bei der späteren Beschreibung und Interpretation hilfreich sein. Das System, das aus dem semiotisch inspirierten theaterwissenschaftlichen Kontext stammt, ist in seiner Komplexität sicherlich nicht von einem einzelnen Beobachter auf ein derart hoch komplexes Zeichensystem wie eine Theateraufführung anzuwenden, es kann aber dazu dienen, die Beobachtungen einer Gruppe von Zuschauern zusammenzutragen und systematisch zu ordnen.

Neben diesem systematisch-ästhetischen Ansatz für die Beobachtung und spätere Beschreibung und Bewertung einer gesehenen Theateraufführung ist im thp Kontext auch ein an Figuren und Geschichten orientierter Ansatz von Interesse. Beim Besuch der Aufführung (Beobachtung) konzentrieren sich die Zuschauer auf die Beziehungen einzelner Figuren zueinander und auf die Relevanz und Bedeutung ihres Tuns und Lassens für den Fort- und Ausgang der Geschichte. Dabei konzentriert sich die Beobachtung auf szenische Vorgänge, Drehpunkte, Handlungen und Haltungen von Figuren, Arrangements der Figuren zueinander und  im Bühnenraum.

Die Methode für das Zusammentragen der Beobachtungsergebnisse ist die Beschreibung. Die Zuschauer fassen ihre Eindrücke und Erinnerungen an die Theateraufführung in Worte, werden dann von anderen Zuschauern ergänzt, konkretisiert oder relativiert. Die Beschreibung kann einem systematischen, an den Zeichensystemen des Theaters orientierten Muster folgen. Sie kann sich auch an konkreten Fragestellungen orientieren. Für die semiotisch inspirierte Aufführungsanalyse der Theaterwissenschaft hat Patrice Pavis einen Fragenkatalog zusammengestellt, der beispielsweise nach Widersprüchen und Übereinstimmungen zwischen Text und Inszenierung fragt, nach der Rolle des Textes in der Inszenierung, nach räumlichen Beziehungen, nach dem System der Beleuchtung, nach den Gegenständen, den Kostümen und ihrem jeweiligen Verhältnis zu Raum und Körper, nach der Spielweise sowie den Verhältnissen der Schauspieler zueinander und zu ihrer Rolle, nach den Funktionen der Musik, der Geräusche und des Schweigens, nach dem Rhythmus der Aufführung, nach der Auslegung der Fabel durch die Inszenierung und nach den Zuschauern (vgl. Pavis 100ff.). Wird diese oder zumindest eine praktikable Auswahl dieser Fragestellungen einer beschreibenden Analyse zugrunde gelegt, kann bereits Wesentliches über die gesehene Aufführung gesagt werden.

Eine Frage, die bei Pavis auftaucht, wird so oder so ähnlich oft als Ausgangspunkt für eine weniger systematische als vielmehr assoziative Annäherung an die Beschreibung einer Aufführung genutzt: Welche Bilder haben Sie im Gedächtnis behalten? „Die Bilder, die in uns lebendig geblieben sind, […] bilden das ‚Fachwerk‘ unserer Wahrnehmung und unseres Gedächtnisses. Sie bestimmen unser Vermögen, die Fabel zu organisieren und die Bedeutung aufzubauen.“  (Pavis 106) In jedem Falle wird eine gesprächsweise Erörterung des Gesehenen nur Momentaufnahmen von den Eindrücken der Aufführung auf die Zuschauer liefern. Die Notwendigkeit der Beschreibung des Gesehenen ist Folge des transitorischen Charakters des Theaters. Das Kunstwerk Theateraufführung existiert nur zum Zeitpunkt seiner Hervorbringung, da es von den Zuschauern wahrgenommen wird. Um es zum Gegenstand der interpretierenden Reflexion machen zu können, muss es zunächst in einer anderen Form wiedergegeben werden. Das Beobachtete muss also beschrieben werden. Darin unterscheidet sich das Theater von allen jenen Künsten, in denen die Artefakte gegenständlich vorhanden sind und für eine wiederholte Rezeption zur Verfügung  stehen.

Die Beschreibung lässt sich nicht eindeutig von der Interpretation bzw. Bewertung des Gesehenen trennen, denn es fließen unwillkürlich Werturteile und Einschätzungen der Wirkung der Aufführung auf den Zuschauer in die Beschreibung ein, „gleichwohl wird mit diesen Beschreibungen mehr ausgedrückt, als bloß subjektive Befindlichkeit“ (Inhetveen u. a. 14). Die beschreibende Analyse kann als Vorstufe zur Interpretation des Kunstwerks Aufführung betrachtet werden.

In seiner Interpretation artikuliert der Zuschauer seine Sicht auf die gesehene Theateraufführung. Dabei spielen meist weniger ästhetische Aspekte eine Rolle, vielmehr stehen Auslegungen und Lesarten der in der Aufführung erzählten Geschichte im Mittelpunkt des Interesses.

Theater spielen: Bei der thp Anleitung und Begleitung von spielerisch-darstellerischen Prozessen sind B/B/B direkt auf die darstellerische Tätigkeit bezogen und sowohl Teil des spielerisch-darstellerischen Prozesses selbst als auch Teil der thp Reflexion des Arbeitsprozesses durch den Spielleiter.

Das Handeln des Spielers im Spielvorgang basiert auf seinen Erkenntnissen, die er durch Beobachtung der Welt gewonnen hat. „Das erste / Was ihr zu lernen habt, ist die Kunst der Beobachtung / Du, der Schauspieler / Mußt vor allen anderen Künsten / Die Kunst der Beobachtung beherrschen. / Nicht, wie du aussiehst nämlich ist wichtig, sondern / Was du gesehen hast und zeigst. Wissenswert / Ist, was du weißt. / Man wird dich beobachten, um zu sehen / Wie gut du beobachtet hast.“ (Brecht 862f.) Indem der Spieler im Spielvorgang handelt und sich und sein Handeln in Beziehung zu anderen Spielern und deren Handeln setzt, beobachtet er auch die anderen Spieler, reagiert auf deren Haltungen und Handlungen. Auch diese Reaktionen werden wiederum von den anderen Spielern beobachtet, die ihrerseits handelnd darauf reagieren usw. Das verbale Beschreiben entfällt in diesem Prozess natürlich, an seine Stelle tritt die gedanklich-körperliche Reflexion des Beobachteten durch den jeweiligen Spieler und die daraus folgende Beurteilung (Bewertung) der Handlung des Gegenübers, aus der die Entscheidung für die Reaktion auf diese Handlung folgt. Der Spieler setzt sich mit seinem Handeln in Beziehung zum Handeln der anderen Spieler und umgekehrt. „In den darstellenden Künsten ist das Ergebnis von Beobachtung das Verhalten. Das gilt für die einfachsten Übungen mit Kindern bis zur großen Schauspielkunst. In diesem Sinne gibt es keine Unterschiede: Der Darsteller […] gibt seine Beobachtungen durch sich selbst wieder, das heißt er stellt sie dar.“ (Hoffmann u. a. 15) Komplizierter wird das Beziehungsgeflecht von Beobachten und Handeln, wenn die Spieler eine konkrete Figur verkörpern und der Spieler die Figur beobachtet, die er spielt.

Der im Spielvorgang naturgemäß ausgesparte Schritt der verbalen Beschreibung des beobachteten Handelns kann vor allem in der Auswertung der Probenarbeit mit den Spielern entwickelt werden. Die Zuschauer der Probenarbeit beschreiben dabei den Spielern die Vorgänge, die sie auf der Bühne gesehen haben und bewerten diese interpretierend und/oder in Bezug auf die Qualität der Darstellung.

Für den Spielleiter ist B/B/B der gespielten Übungen, Szenen oder Inszenierungen das wichtigste Instrument der Auswertung und Weiterentwicklung der szenischen Arbeit. Er fungiert für den Spieler dabei in gewisser Hinsicht wie ein Spiegel. Anders als ein Spiegel muss der Spielleiter jedoch das Vermögen besitzen, das Beobachtete so zu beschreiben und zu bewerten, dass der Spieler allein oder im Gespräch mit dem Spielleiter und/oder den Mitspielern Entscheidungen für Veränderungen an seinem Spiel treffen kann. „Er muß die Kunst beherrschen, mit den Schülern umzugehen. […] Er muß es uns klarmachen. Sonst stehen wir auf der Bühne und spielen einfach. Er muß uns klarmachen, was wir da machen.“ (Hoffmann 35) Doch nicht der Spielleiter allein ist in diesem Prozess der beobachtende und beschreibende Zuschauer, die Gruppe selbst besteht aus sich abwechselnden Spielern und Zuschauern. „Die Spieler übertragen etwas Gedachtes ins Sichtbare, die Zuschauer beobachten und beschreiben, was sie gesehen haben. Dabei korrigieren sie sich auch selbst. […] Hier wird ein Stück Zuschauerkunst gelehrt, d.h. die Fähigkeit zuzusehen, zuzuhören, denn nur über diesen Weg lernt man auch beurteilen.“ (ebd. 20)

Grundsätze für die Beobachtung und Beschreibung sind im spielpraktischen Zusammenhang von denselben Prinzipien bestimmt wie im Zusammenhang mit der Rezeption einer Theateraufführung. Damit ist die Methode der Beobachtung und Beschreibung dieselbe, nur die Zwecksetzung der Erkenntnis ist unterschiedlich. Hier zielt sie auf Interpretation und Lesart der Aufführung, da auch auf eine Lesart, aber verbunden mit der Option zur Korrektur des Spielprozesses.

Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin 2001; Brecht, Bertolt: Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung. In: Ders.: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Schriften 2, Teil 2. Frankfurt a. M. 1993; Hoffmann, Christel/Israel, Annett (Hg.): Theater spielen mit Kindern und Jugendlichen. Konzepte, Methoden und Übungen. Weinheim 1999; Inhetveen, Rüdiger/Kötter, Rudolf (Hg.): Betrachten, Beobachten, Beschreiben. Beschreibungen in Kultur- und Naturwissenschaften. München 1996; Pavis, Patrice: Semiotik der Theaterrezeption. Tübingen 1988; Stanislawski, Konstantin S.: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Bd. 1. Berlin 1981.

GERD TAUBE

Foyergespräch – Geste – Regie – Rezension von theaterpädagogischen Aufführungen – Rezeptionsforschung – Spielleitung