Bildertheater

Die enttäuschten Hoffnungen auf eine Humanisierung der Welt durch logozentrisch fundierte Ideologien, wortmächtige Appelle und vernünftige Diskurse haben die Skepsis gegenüber der Sprache, wie sie am Ende des 19. Jhs. erstmals artikuliert wurde, am Ende des 20. Jhs. zu einem neuen Höhepunkt geführt. Gegenüber dem konventionellen Theater, das sich als Mittel zur Darstellung und Interpretation von Wortdramen und Musikdramen begreift, steht das Theater der Bilder in mehrfacher Hinsicht in  Opposition:

Es erzählt keine kausallogisch aufgebauten Geschichten, sondern reiht bewegte Bilder aneinander und verknüpft sie assoziativ;

es stellt keine psychologisch ausdifferenzierten Charaktere auf die Bühne, sondern Kunstfiguren, Objekte und Maschinen; es gibt keine illusionistischen Nachahmungen von Wirklichkeit, sondern kreiert autonome Realitäten mit eigenen räumlichen und zeitlichen Gesetzmäßigkeiten;

es vermittelt keine rational fassbaren Botschaften in diskursiver Sprache, sondern schafft ganzheitliche Bildwelten;

es strebt nicht in erster Linie nach Aktivierung und Beeinflussung des Bewusstseins, sondern will das Wechselspiel zwischen den bildhaft strukturierten Schichten des Unbewussten und dem begrifflichen Denken in Gang setzen;

es sucht die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum durchlässig zu machen.

Zu Anfang des 20. Jhs. haben Bildende Künstler eine Reihe von Theaterkonzeptionen vorgelegt, die das Bühnengeschehen nicht mehr als naturalistisches Abbild der Realität bestimmten, sondern als deren phantastisch-visionäres Gegenbild. Die wichtigsten waren die von Adolphe Appia und Edward Gordon Craig. Beide wandten sich mit Entschiedenheit gegen allen Historismus und Naturalismus. Ausgehend von der Auseinandersetzung mit Richard Wagners Theorie des theatralen ,Gesamtkunstwerks‘, die er in den Bayreuther Inszenierungen des Meisters nur unzureichend verwirklicht fand, entwickelte Appia in seinen Schriften und Szenenskizzen die Vision einer von allem Kulissenplunder befreiten, nur mit architektonischen Grundelementen ausgestatteten Raumbühne. Craig forderte – ganz im Sinne der Kunstdoktrin des Symbolismus – von der Bühne die Darstellung der hinter den Dingen verborgenen Wesenheiten; ,Ruhe,  Harmonie und Schönheit‘ zu beschwören stellte er der Kunst zur Aufgabe.

Die frühesten praktischen Beispiele für ein visuelles Theater aus dem Geist der Avantgarde gab es um 1910 in Italien und in Russland. Dort entstanden geistig-künstlerische Bewegungen, die sich als ,Futurismus‘ bezeichneten, um so ihre Orientierung auf die Zukunft deutlich zu machen. Die beiden Strömungen stimmten in ihrer scharfen Opposition gegen den Symbolismus und Ästhetizismus der Jahrhundertwende-Kunst mit ihren Tendenzen zur Flucht aus der Realität ebenso überein, wie in ihrem uneingeschränkten Glauben an einen linearen Fortschritt nicht nur in der primären Wirklichkeit, sondern auch in der Kunst. Sie vollzogen einen radikalen Bruch mit allen überlieferten Werten der Kunst wie des Lebens; beide Bereiche wieder miteinander in Verbindung zu bringen, war ihr oberstes Ziel.

Die jungen Künstler, die sich um den italienischen Dichter und Journalisten Filippo Tommaso Marinetti scharten, nachdem er 1909 das Gründungsmanifest als Leitartikel im Pariser ,Figaro‘ veröffentlicht hatte, protestierten mit aller Macht gegen die in ihrer italienischen Heimat besonders ausgeprägte Rückständigkeit, gegen den ,Passatismus‘, wie sie die allgemeine Orientierung an der Vergangenheit nannten. Mit Vehemenz forderten sie eine ,Neukonstruktion des Universums‘, aufbauend auf den neuen Errungenschaften der Technik. Sie begrüßten emphatisch die neuen Kommunikations- und Verkehrsmittel, auch die sozialen und die politischen Phänomene ihrer Zeit: Die großstädtische Massengesellschaft, das Machtstreben, der Nationalismus, der imperialistische Gestus der Politik im Vorfeld des Weltkriegs wurden von den italienischen Futuristen unkritisch verherrlicht. Indem sie Krieg und Gewalt als Leitbilder akzeptierten, gerieten sie später in gefährliche Nähe zum Mussolini-Faschismus.

Der Beitrag der italienischen Futuristen (u. a. F. T. Marinetti, F. Pepero, G. Balla, E. Prampolini, E. Settimelli) zum B hat seine Wurzeln in ihrer positiven Identifikation mit der Welt der Objekte und der Maschinen. So wie in allen Künsten soll auch im Theater die „längst erschöpfte Psychologie des Menschen“ ersetzt werden durch die „lyrische Besessenheit der Materie“ (Marinetti zit. n. Simhandl 1993, 49). Aus dieser Intention entstand die neue Gattung des ,Objektdramas‘, die in einer Vielzahl von Variationen in Erscheinung trat. Marinetti legte ein Szenarium mit dem Titel Kampf der Kulissen vor, in der vier typisierte Figuren auftreten, die – wirr redend und heftig gestikulierend – ihre Kommentare zu einer roten Wand abgeben, die auf diese Weise zum eigentlichen ,Protagonisten‘ des Stückes wird. Personen und Dinge treten gleichberechtigt als handelnde und sprechende Elemente auf.

Die russischen Futuristen – die bedeutendsten sind David Burljuk, Wladimir Majakowski, Kasimir Malewitsch, Michail Matjuschin, Alexander Krutschonych und Welimir Chlebnikow – setzten sich ebenso wie ihre italienischen Namensvertreter das Ziel, ihre Zeitgenossen aus der geistigen Lethargie der Zeit aufzurütteln. Neben der Literatur und der Bildkunst bot sich dafür in erster Linie das Medium Theater an. Ihren Höhepunkt erlebte die futuristische Bühnenkunst in einer Dezember-Woche des Jahres 1913. Aufgeführt wurden jeweils zweimal im Petersburger Luna-Theater ein Stück von Majakowski, dem der Autor einfach seinen Namen als Titel gegeben hat, und die von Matjuschin komponierte Oper Sieg über die Sonne nach einem Libretto von Krutschonych. Ganz der Ideologie des Futurismus entsprechend, zeigt dieses Werk, wie sich der Mensch anschickt, das Universum zu erobern und sich die Gestirne untertan zu machen. Die Aufführung wurde wesentlich bestimmt durch die flächigen Pappendeckel-Kostüme von Malewitsch, die ihren Trägern nur Bewegungen parallel oder im rechten Winkel zur Rampe erlaubten. Bei dem Entwurf der Prospekte stellte sich der Maler die Aufgabe, die Räumlichkeiten zweidimensional zur Anschauung zu bringen. Sie lassen bereits deutlich die Tendenz zum Suprematismus erkennen, mit dem Malewitsch der Kunst den Weg weisen wollte von der Darstellung ,gegenständlichen Gerümpels‘ zu einer der ,Beschwörung kosmischer Energie‘ dienenden Abstraktion in Gestalt geometrischer Grundformen in Schwarz und Weiß. – In dem dramatischen Poem Wladimir Majakowski, das der zweiten futuristischen Musteraufführung zugrunde lag, tritt der Autor selbst als Gestalt auf, umgeben von Kunstfiguren wie einem tausendjährigen Greis mit schwarzen Katzen als Symbolen der Elektrizität, seiner sechs Meter großen Geliebten, ,Kusskindern‘ und Männern, denen ein Ohr, ein Auge oder ein Bein fehlen. Die Auseinandersetzung der Majakowski-Figur mit den neuen materiellen und sozialen Phänomenen ist das zentrale Thema des Stückes. Die Aufführung endete in einem ungeheuren Tumult.

Die Oktoberrevolution erschien den Futuristen als eine Möglichkeit, ihre Träume von einer schöneren neuen Welt in die Realität umzusetzen. Sie suchten ihre Kunst den neuen Aufgaben gemäß zu entwickeln. Die Maler bauten die Ästhetik technoider Formen aus und gingen auf diese Weise konform mit der von Partei und Regierung beschriebenen Propaganda für den Umbau des zurückgebliebenen Agrarlandes in einen modernen Industriestaat. An die Stelle der intuitiven Komposition stellten die russischen Künstler das rationale Schaffensprinzip der Konstruktion. Ihre hochfliegenden Pläne ließen sich aber angesichts der katastrophalen Wirtschaftssituation nur selten praktisch umsetzen. In dieser Situation bot das Theater immerhin die Möglichkeit zu einer Realisierung im ,verkleinerten Maßstab‘. Dazu gaben ihnen vor allem Wsewolod Meyerhold und Alexander Tairow, die beiden bedeutendsten Regisseure des Theaters der Russischen Revolution, die Möglichkeit. An deren unter dem Stichwort ,Theateroktober‘ in die Geschichte eingegangenen Inszenierungen hatten konstruktivistische Künstlerinnen und Künstler wie Ljubow Popowa, Wera Stepanowna, Alexandra Exter, die Brüder Sternberg und Alexander Wesnin entscheidenden Anteil.

Der Beitrag der Bauhaus-Künstler zum modernen B hat seine Wurzeln in der um 1910 parallel zum italienischen und zum russischen Futurismus entstandenen künstlerischen Bewegung, die ausgerichtet war auf die Abstraktion von der Fülle der Erscheinungen auf das Wesen der Dinge sowie auf die Überwindung des Materiellen durch den Geist. Über das Geistige in der Kunst (1910) heißt die Programmschrift von Wassily Kandinsky, der als Maler wie als Bühnenreformer zu den Begründern dieser Strömung zählt. Ihre philosophische Fundierung erhielt die neue Kunstrichtung durch die im Jahr 1908 erschienene Schrift Abstraktion und Einfühlung des jungen Gelehrten Wilhelm Worringer. Der Philosoph stellt darin die These auf, dass in der ,reinen Abstraktion‘ die einzige Chance besteht, ,Ruhe im Inneren der Verwirrung und in der Dunkelheit des Weltbildes‘ zu finden.

Der für die Entwicklung des B bedeutendste unter den Bauhaus-Künstlern war der Zeichner, Maler und Plastiker Oskar Schlemmer. Ähnlich wie Kandinsky bewegte er sich künstlerisch in dem Spannungsfeld zwischen Metaphysik und Rationalität. Es berief sich auf den Satz des romantischen Dichters Novalis: ,Mathematik ist Religion‘. Nach Schlemmers Auffassung besteht die Hauptaufgabe der Kunst darin, durch Abstraktion die Ordnung des Universums sichtbar zu machen. In Schlemmers Triadischem Ballett zeigt sich die Dominanz des Bildnerischen schon im Entstehungsprozess: Zuerst entwarf Schlemmer die  Kostüme; aus ihren Grundformen leitete er dann die Weglinien der Tänzer ab, die sog. ,Bodengeometrie‘; dann erst erfolgte die Auswahl der Musik.

Der polnische Bildkünstler und Regisseur Tadeusz Kantor hat in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten eine sehr spezifische Form des B entwickelt, der er den Namen ,Theater des Todes‘ gegeben hat. Dieses Modell eines ganz aus der Erinnerung seines Schöpfers gespeisten Bühnenkunstwerks, das gerade durch die Beschwörung des Todes ein neues Lebenskonzept für unsere von der Herrschaft der toten Materie bedrohte Welt finden will, entfaltete er in einer Reihe von Inszenierungen, die in Krakau, der Heimatstadt es Künstlers, entstanden sind und als Gastspiele in den europäischen Theatermetropolen Furore gemacht haben: Die tote Klasse; Wielopole, Wielopole; Die Künstler sollen krepieren; Heute ist mein Geburtstag. Lebensgroße Puppen waren in das Bühnengeschehen integriert. In Wielopole, Wielopole diente das Double der Braut als Spielball der Kameraden des Bräutigams; auf diese Weise wurde ihre Vergewaltigung symbolisch angezeigt. Mitten im Trubel agierte der Regisseur, wie in allen Inszenierungen des ,Theaters des Todes‘ als eine Art Dirigent oder Zeremonienmeister. Im schwarzen Anzug, einen weißen Schal um den Hals, trieb er das Spiel an oder suchte es zu verlangsamen, rückte die Objekte zurecht oder gab den Technikern stumme Zeichen. So wurde jede Aufführung, ähnlich wie beim Happening,  zu  einem  einmaligen  Ereignis.  Das Bühnenwerk Die Künstler sollen krepieren war geprägt von seltsamen Folterapparaten und Todesmaschinen sowie von Objekten, die mit ihren Trägern fest verbunden gewesen sind (,Bio-Objekte‘).

Der in Berlin lebende Achim Freyer begreift sich eigentlich als Maler. Seine Inszenierungen beruhen einerseits auf Opernwerken und Sprechstücken, andererseits auf epischen Texten wie den Metamorphosen des Ovid oder auf nichtdramatischen Musikwerken wie Händels Messias. Der Künstler versteht seine Werke als Kompositionen in den verschiedenen Sprachen des Theaters. Sprache ist für ihn nicht nur das Wort, sondern auch der Laut und die Musik, die Form und die Farbe, der Raum und die Bewegung. Die einzelnen Elemente verhalten sich im Bühnengeschehen zueinander wie ,autonome Gestirne‘. Die Wörter sollen nicht die Bilder erklären, die Bilder sollen nicht die Wörter schmücken. Freyer interpretiert seine literarischen unmusikalischen Vorlagen nicht, sondern schafft ihnen Gefäße, in denen sie optisch zur Geltung kommen können.

Die New Yorker Kunstszene um 1970, die PopArt, der Postmodern Dance, die Musik-Events von John Cage, bildeten den Humusboden für die Entwicklung der Kunst von Robert Wilson, dem bedeutendsten Vertreter des B im letzten Viertel des 20. Jhs. Mit seinem Bemühen, die Einzelkünste zusammenzuführen, knüpft Wilson an die von Wagner, Appia und schließlich von Kandinsky durchdachte Idee des theatralen Gesamtkunstwerks an. Von ihm selbst als ,Opera‘ bezeichnet (in der wörtlichen Bedeutung von arbeiten), sind Wilsons Bühnenwerke der 1970er Jahre weder zum Schauspiel noch zur Oper oder zum Ballett zu rechnen. Es handelt sich um eine eigenständige Gattung, bei der keine der Komponenten dominiert, wenn auch das Bildnerische oft die Führung übernimmt. Mit der Verweigerung von Kausalität und Psycho-Logik erschienen Wilsons ,Operas‘ eher als ,Tagträume‘ denn als Nachahmungen wiedererkennbarer Realitäten.

In seinen Frühwerken setzte Wilson fast ausschließlich die visuellen Elemente des Theaters in grandioser Üppigkeit ein. Louis Aragon hat dafür den Begriff ,Stumme Oper‘ geprägt, als er 1971 Wilsons Deafman Glance (Der Blick des Tauben) anlässlich eines Gastspiels in Paris in einem offenen Brief an seinen (schon fünf Jahre toten) Surrealisten-Freund André Breton als Erfüllung ihres gemeinsamen Traumes rühmte. Da heißt es: „Ich habe niemals etwas Schöneres auf dieser Welt gesehen, […] denn es ist zugleich das wache Leben und das Leben bei geschlossenen Augen, die Verwirrung zwischen der Welt aller Tage und der Welt jeder Nacht, Realität vermischt mit Traum, das gänzlich Unerklärliche im Blick des Tauben.“ (Aragon 709f.)

Aragon, Louis: Surrealist durch die Stille. In: Barck, Karlheinz (Hg.): Surrealismus in Paris 1919–1939. Leipzig 1990; Brecht, Stefan: The Origin Theatre of the City of  New York, Bd. 1: The Theatre of Visions. Frankfurt a. M. 1978; Kandinsky, Wassily: Über Theater. Köln 1998; Kantor, Tadeusz: Theater des Todes. Nürnberg 1983; Ders.: Ein Reisender. Nürnberg 1988; Katalog der Städtischen Galerie im Städelschen Kunstinstitut. Frankfurt a. M. 1986; Keller, Holm: Robert Wilson. Frankfurt a. M. 1997; Lista, Giovanni: La scène moderne. Paris 1997; Die Maler und das Theater im 20. Jahrhundert. Katalog der Schirn Kunsthalle. Frankfurt a. M. 1986; Raumkonzepte. Konstruktivistische Tendenzen in Bühnen- und Bildkunst. 1910–1930; Rischbieter, Henning/Storch, Wolfgang (Hg.): Bühne und Bildende Kunst im XX. Jahrhundert. Velber 1968; Scheper, Dirk: Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballett und die Bauhausbühne.  Berlin  1988;  Schlemmer,  Oskar/Moholy-Nagy, Laszlo/Molnár, Faskas: Die Bühne im Bauhaus. München 1925; Shyrer, Lawrence: Robert Wilson and his collaborators. New York 1989; Simhandl, Peter: Achim Freyer. Frankfurt a. M. 1991; Ders.: Bildertheater. Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts als Theaterreformer. Berlin 1993.

PETER  SIMHANDL

Bühnenbild – Bühnenräume – Konstruktivismus – Objekttheater  – Performance