Contact Improvisation

Das Judson Dance Theater, New York, stellte in den 1970er Jahren bestehende ästhetische Grundannahmen des Modernen Tanzes in Frage, indem es Alltagsbewegungen wie Gehen, Sitzen, Stehen, Fallen und Liegen in den Tanz einbezog. Steve Paxton, Tänzer und Aikido-Schüler, Nancy Stark Smith u.a. arbeiteten mit der Dynamik zwischen Tanzenden, wenn sie übereinander rollen, sich hochheben, anspringen und gegenseitig fangen (1972: erste öffentliche Aufführung Magnesium, New York). Die Aktionen der Tanzenden entwickelten sich spontan und aus der gemeinsamen Berührung heraus, was dem Projekt den Namen CI eintrug. Die jungen GründerInnen waren fortschrittlichen politischen Bewegungen verpflichtet, namentlich anti-elitism (vgl. Novack 136), Gleichheit und Kooperation, was die CI seither entscheidend prägt. In Europa entwickelte sich CI in kurzem zeitlichen Abstand zu einem wichtigen Aspekt des New Dance, in Opposition zum formalen Modern  Dance.

CI besteht als eigene Tanzform, dient als Ausgangsmaterial für neue Richtungen im zeitgenössischen Tanz (z. B. DV8, England; Sasha Waltz, BRD) und auch als Trainingsmaterial im Sprech-/Improvisationstheater.

Kommuniziert wird CI über Performances, Netzwerke von lokalen bis internationalen Jams (freie Improvisations-Treffen), Festivals und Konferenzen (z. B. ECITE, European CI Teachers Exchange) sowie mittels Periodika (wichtigstes: Contact Quaterly [CQ], USA, seit 1975) und – zunehmend – wissenschaftlicher Publikationen.

CI wird vornehmlich als Duett, aber auch in kleinen Gruppen getanzt. Die Tanzenden berühren sich an Körperpunkten und -flächen und bewegen sich miteinander in ständigem physischen Kontakt. Ihre Aufmerksamkeit ist auf das taktile Geschehen gerichtet. Sie lehnen bzw. ziehen aneinander, gleiten umeinander und geben/nehmen ihr Gewicht teilweise oder ganz ab, zugunsten gemeinsam gefundener dynamischer Balance bzw. Counterbalance. Aus der Umleitung von Gravitationsenergie in den Raum hinein entsteht Schwungkraft/Momentum, vergleichbar der Energie eines Pendels, die die Tanzenden zum Verlieren und Finden ihrer Balance nutzen: „Wir arbeiten mit Schwerkraft und Fallen als den bestimmenden Kräften“ (Kaltenbrunner 111). Die Ökonomisierung muskulärer Kraft ist Gebot und Bedingung für entspanntes, genussvolles Tanzen. Frei von vorgegebenen (ästhetischen) Formen, geführt von der intuitiven Bewegungsintelligenz (Kaltenbrunner 55) des Körpers – dem responsive body (Anderson 18) – und dem rollenden Kontaktpunkt, bewegen sich die Tanzenden „dreidimensional durch alle Raumebenen. Sie rollen, kriechen, fallen, fliegen“ (Möller 17). Der Kopf nimmt verwegene Positionen im Raum ein, die Tanzenden befinden sich kopfüber-kopfunter (absichtsvolle Desorientierung).  Dabei  treten  sie  in  einen  Dialog, communication through touch, dessen Verlauf und Ziel von ihrem Spaß und Genuss geprägt ist. Die Improvisation bedeutet zugleich dessen Unwiederholbarkeit. Umgebende Musik spielt eine untergeordnete bis keine Rolle.

Die innere Haltung der Tanzenden ist gekennzeichnet durch Bereitschaft zur Berührung: „Contact is a touch revolution“ (Nelson zit. n. Anderson 21); Prozessstatt Ergebnisorientierung, d. h. Entspanntheit und Absichtslosigkeit: „Relaxation frees up energy“ (Stuart 5); Lust/Neugier auf spielerisches Treiben und Bereitschaft zum Chaos, Unvollkommenen und Scheitern: „the space to be mistaken engenders open exchange between people“ (Dymoke zit. n. Anderson 25); SelbstVerantwortung im Sinne von Vertrauen zum Boden und zum eigenen Fallen; gegenseitige Achtsamkeit, Kooperation und Unterstützung; Anerkennung eigener und fremder Grenzen; Wert- und Leistungsfreiheit. Gelehrt und verbreitet wird CI als Teil zeitgenössischer Tanzausbildungen an internationalen Schulen (z. B. School for New Dance Development, Amsterdam) sowie in öffentlichen Kursen und Workshops. Methodisch und didaktisch bedient sich CI Anleihen aus Aikido, Capoeira, Akrobatik und Body-Awareness (BMC, Release, Feldenkrais).

Die Rolle des/der Lehrenden besteht darin, „eine angstfreie und vertrauensvolle Unterrichtsatmosphäre zu schaffen“ (Möller 54). Weiterhin hat er/sie für die notwendige Sicherheit (Unfallgefahr) der Lernenden sowie auf deren Achtsamkeit auf eigene und fremde Grenzen bzw. deren Wahrung (z. B. bei sexuellen Übergriffen) zu sorgen: „better to teach […] to say no!“ (Stuart 5). Schließlich ist er/sie „Katalysator im Prozess der Improvisation“ (Saborowski 81), gibt Impulse und Bewegungsideen, die es den Lernenden erlauben, ihre eigene Kreativität zu entfalten; es überwiegt Zurückhaltung.

Auftritte/Performances vor Publikum sind für CI nicht konstitutiv, indes lebendiger Bestandteil. Sie bieten Raum für Erfahrungen/Erlebnisse, welche  der ‚Bühne‘ und ‚Improvisation‘ zueigen sind.

CI findet zunehmend Eingang in Schul-/Hochschulsport sowie in Bereiche der Sozialen Arbeit. Dabei sind keine spezifischen körperlichen Fertigkeiten/Ausbildungen erforderlich, d. h. auch Menschen, die körperliche/motorische Unzulänglichkeiten aufweisen oder z. B. sprachlich beeinträchtigt sind, finden hier ihren Platz. Insbesondere körperlich und Seh-Enthinderte werden integriert und können von CI profitieren (erstmalig 1987: Alito Alessi, DanceabilityProject, USA).

Entsprechend wird CI bzw. werden deren Elemente in der Enthindertenarbeit, Psychotherapie (z. B. Bulimie, vgl. Anderson; Lemieux), Drogentherapie, Frauen-/Mädchenarbeit, mit Kindern (insbesondere mit Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom) und alten Menschen angewandt. CI vermag vernachlässigtes Körperbewusstsein zu entwickeln und neue kinästhetische Wahrnehmungsräume zu erschließen (vgl. Bruns) sowie soziale Kompetenzen im Sinne eines „Modells für soziales Verhalten“ (Keriac zit. n. Kaltenbrunner 34) zu entfalten. Die Beachtung klientelspezifischer Vorbehalte und Grenzen im Rahmen der Körperarbeit mit CI ist in diesem Kontext essentiell. CI kann einen Beitrag zur Gender-Debatte leisten, als dass sie tradierte Geschlechterrollen/-zuweisungen (engl. gender) negiert: Alle Aktionen sind für alle möglich, jede/r kann jede/n tragen, sowohl in getrennt wie gleichgeschlechtlichen Tänzen. Insofern birgt CI antipatriarchale und emanzipatorische Potenziale in sich.

Sexualität kann Anteil jeden Tanzes sein, so auch der CI. Die Enttabuisierung von Berührung in der CI macht diesen Zusammenhang prekär. Die Anerkennung der Sexualität – entsprechend dem Selbstverständnis der CI – als ein möglicher Aspekt des Tanzes, jedoch zugleich als ein Geschehen in unbedingter individueller Entscheidungsfreiheit, „schließt ihre Fokussierung, Instrumentalisierung oder gar Ausbeutung im Rahmen der Tanzform aus“ (Neumann-Cosel 32). Vornehmste Aufgabe der Tanzenden ist es, dies zu beachten, ohne die Sexualität als solche zu verbannen. CI ist somit geeignet, ein differenziertes Bewusstsein von Sexualität im Allgemeinen und der eigenen Sexualität im Besonderen zu erlangen: „Contact Improvisation could be called ,safe sex‘, the safest sex of all.“ (Stuart 4)

Anderson, Robert: Transformaton through touch. A study of the therapeutic potential of contact improvisation. BA Dissertation. University of Surrey (GB). 2000; Bruns, Heilke: Am Anfang war Berührung, Kontaktimprovisation – Auswirkungen auf Körperbewusstsein,  Bewegungsverhalten und musikalische Improvisation. Hamburg 2000; Kaltenbrunner, Thomas: Contact Improvisation. Bewegen, tanzen und sich begegnen. Aachen 2001; Lemieux, Adwoa: The contact duet as a paradigm for client/therapist interaction. Masters Thesis in Dance Movement Therapy. Naropa Institute, USA, 1988; Möller, Denise: Kontaktimprovisation und Persönlichkeitsentwicklung. Möglichkeiten und Grenzen. Examensarbeit Sportwissenschaften. Universität Bremen. Bremen 2001; Neumann-Cosel, David: Die süße Schwere der Körper. Diplomarbeit. Alice-Salomon-Fachhochschule. Berlin 2002; Novack, Cynthia Jean: Sharing the Dance. Contact Improvisation and American Culture. Madison, London 1990; Saborowski, Maxine Julia: Tanzen und Sinnenbewusstsein. Diplomarbeit. Evangelische Fachhochschule Rheinland–Westfalen–Lippe. Bochum 1999; Stuart, Carolyn: An unfinished dialog about Contact Improvisation. In: Tom Giebink’s internet forum page. 2001. www.contact-improvisation.de

DAVID   NEUMANN-COSEL

Action  Theater  –  Bewegung  –  Körpersprache  – Körper- und Bewegungsstudium – Leiblichkeit – Sportpädagogik – Tanzpädagogik – Zielgruppe