Darstellende Kommunikation

Zu Beginn der 1990er Jahre wurde der Begriff DK formuliert und gewann Gewicht im Kontext der Entwicklung der ThP in der BRD. Neben der Betonung ihrer Eigenständigkeit als pädagogische Disziplin, deren Spezifik sich den Gestaltungsformen des Theaters verdankt, ging es dabei zugleich um eine generelle gesellschaftliche Verortung und Wertschätzung, die 1994 zur Bildungskonzeption des Bundesverbandes Theaterpädagogik (vgl. Bundesverband) und 1995 zum Kerncurriculum der Bundesarbeitsgemeinschaft Spiel und Theater (vgl. Hentschel u. a.) führte. In der Vorbemerkung zu den Lehrplänen der Spielstatt Ulm heißt es z. B.: „Mit der Herausgabe dieser Lehrpläne artikulieren wir den Beginn des Weges zu einer neuen menschlichen Kommunikation: Darstellende Kommunikation und Darstell-Pädagogik übertragen die Erkenntnisse der Modellbildung der Darstellenden Kunst auf das alltägliche Leben mit dem Anliegen, damit dem Menschen und der Gesellschaft eine für unsere Zeit habhafte und gangbare Theorie und Praxis zu übergeben.“ (Schneider 5f.) Im Kerncurriculum heißt  es:

„Ausgangspunkt aller zu erwartenden Kompetenzen ist die Erfahrung von Spiel und Theater als einer sinn- und sinnenhaften Erfahrung wesentlicher Grundstrategien menschlicher Kommunikation.“ (Hentschel u. a. 12)

Gegen die Ausrichtung auf Sprache als dominantes Kommunikations-Medium, darin die schriftsprachliche Kommunikation als Wertmaßstab nach wie vor normierende Gültigkeit hat, legt die DK den Akzent auf die anthropologisch und soziologisch verbürgte, gattungsspezifische Ausdruckskompetenz der Menschen, in der die Sprachkompetenz einen von den sozio-kulturellen, schichtspezifischen und individuellen Faktoren abhängigen Stellenwert hat. Vor der lexikalischen und grammatikalischen Richtigkeit einer sprachlichen Botschaft leitet die DK den Wert einer Mitteilung von ihrer dialogischen und interaktionalen Qualität ab. Dabei bezieht sie, den Prämissen von Soziolinguistik und Sprechakttheorie folgend, den Grad ihrer Situationsangemessenheit als konstitutives Element mit ein. So werden haltungs-, verhaltens- und handlungsspezifische Faktoren des kommunikativen Prozesses zu ausdrucks- bzw. eindrucksbildenden und damit zu bedeutungsgenerierenden Faktoren, von denen das Gelingen eines kommunikativen Aktes maßgeblich abhängt. Neben dem sprachlich Denotierten geraten hier die durch Lautgebung, Betonung, Rhythmisierung erzielten Konnotate ebenso zeichenhafte Bedeutung wie die gestischen und mimischen sowie die durch Raumund Zeitgebrauch erzielten Ausdrucksqualitäten. Neben dem individuellen Ausdrucksvermögen und der Spezifik bestimmter Situationen ist DK stets auch Ausdruck bestimmter geschichtlicher, sozio-kultureller Verhältnisse. In Analogie  zur  Schriftsprache  spricht  Bernd Ruping  von einer Lexik und Grammatik der DK:

Lexik nenne ich den Fundus an Gesten, Mimiken, Haltungen, wie er sich für bestimmte Menschen an bestimmten Orten mit bestimmten Konventionen ergibt  (vgl.  den  Begriff  des Gestus  bei Brecht  als leiblicher Ausdruck eines sozialen, gesellschaftlichen Verhältnisses von Menschen oder die verwandten Untersuchungen zum klassenspezifischen Habitus bei Bourdieu). – Grammatik nenne ich die Regeln der Verknüpfung von Gesten, Mimiken, Haltungen zu sozialen Handlungen und Verhaltensweisen (Rituale, Benimmformeln, Status-Muster usw.). – Theatralität ist in diesem Zusammenhang die durch sozio-kulturelle Konventionen geprägte und an sozio-ökonomische Funktionen gebundene Lexik und Grammatik der Darstellenden Kommunikation, wie sie in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit gebraucht wird und Gültigkeit hat. Theater aber konstituiert sich erst in Distanz zu diesem Bedingungsgefüge, auf das es zugleich, als seine stoffliche Basis, zurückgreift. Es bedarf eines aesthetic space (Augusto Boal), eines  leeren  Raumes  (Peter Brook),  eines  Spielraumes.“ (Ruping 13f.)

Im Unterschied zur theatralen Kommunikation unterstellt sich DK absichtsvoll den Zielen einer erfolgreichen, wirkungsvollen Kommunikation an den verschiedenen gesellschaftlichen Lern-, Arbeits- und Spielräumen. Theatrale Mittel und Techniken haben hier, als Handwerkszeug, dienende Funktion.

Vor diesem Hintergrund und in Auseinandersetzung mit dem pragmatisch angelegten Studiengang ,Kommunikationsmanagement‘ der FH Osnabrück entwickelte das Institut für ThP in Lingen ab 2000 ein differenziertes Modell der DK als Grundlagenwissenschaft der ThP. Es unterscheidet sich von den Ansätzen der Soziolinguistik und Kommunikationstheorie, indem es die ästhetische Funktion der Darstellung in den Mittelpunkt seines Frageinteresses und damit in das Gebrauchswertinteresse einer an der Verbesserung ihres Ausdrucksvermögens interessierten Öffentlichkeit rückt. Voraussetzung dafür sei die Emanzipation der eigenen Haltungen und Verhaltensweisen von ihrem gesellschaftlichen Bezugsrahmen, der als (individual-)historischer und intentional-strategischer auf die äußeren und inneren Haltungen der Beteiligten Einfluss hat und ihre Körpersprache prägt.

Die Prädominanz der ,ästhetischen Funktion‘ vor den referentiellen, appellativen oder emotiven Funktionen der Alltagskommunikation (vgl. Jakobson) realisiert sich in der besonderen Einstellung der Darstellenden auf sich selbst, d. h. auf das, was sich im Vollzug der Darstellung neben und hinter den routinisierten Ausdrucksformen zeigt und als interaktionales Phänomen spürbar wird. Im Mittelpunkt der DK stehen deshalb die Differenzqualitäten, die sich zwischen der Bezeichnungsintention – der absichtsvollen Verwandlung des (Zeichen-)Körpers zu bestimmten gesellschaftlichen Zwecken – und der Materialität des (Zeichen-)Körpers als solcher, seiner existenziellen Selbstreferenz, ergeben (vgl. Mersch). Ihr Ziel ist die Vergesellschaftung ästhetischer Wahrnehmungs- und Verkehrsformen zum Zwecke der Emanzipation der Beteiligten von den durch sie verkörperten Zurichtungen. Modus der Erfahrung und methodischer Schwerpunkt zugleich ist dabei das Darstellende Spiel, durch das die Theatralität der Kommunikation als anthropologischer oder soziokultureller Befund auf der einen Seite und Theater als Kunstform sui generis auf der anderen in ein dialektisches Wechselspiel geraten.

Bedingung der Möglichkeit eines Spielens mit der Theatralität der Menschen ist die Konstitution eines kommunikativen Vakuums (vgl. Ruping 14), d. h. von Räumen und Zeiten, in denen die Ansprüche des Alltags nicht unmittelbar durchschlagen auf die Haltungen und Handlungsweisen der Menschen, so dass sie neu zu besetzen und experimentell zu erkunden sind. Dabei macht das Ausschalten der konventionellen Verhaltensregeln und Kommunikationsformen nicht sogleich das Spiel aus. Vielmehr schafft es zunächst den Bedarf an neuen Regeln und Verlässlichkeiten. Hier greift das Handwerkszeug des Spielleiters, hier nutzen die Griffe und Erfahrungen der Theaterlehrer. Ihre Spielregeln sind das kommunikative Substitut für die darstellerischen Normen und Werte des Alltags. Sie schaffen Handlungssicherheit und Rollenschutz. Darstellendes Spielen wird in diesem Zusammenhang zu einem ,Verlernprozeß‘ (Gerd Koch) dessen, was uns über Sozialisation und Enkulturation ,einverleibt‘ ist. Die Spielregeln sind zugleich Bedingung der Möglichkeit, dass sich die Situationen und Sachverhalte der Lebenswelt in Spielmaterialien verwandeln, die sich der un-verschämten Verwertung und kommunikativen Neu-Aneignung durch die Spielenden öffnen. Damit rahmt DK sowohl die Geschichten und Intentionen, die jemand in der Welt vertritt, als auch das, was darin nicht aufgeht, sich aber als Körperbefund, als Ausdrucksnot oder Glück im Auftreten behauptet. Erst in diesem Spannungsgefüge werden die Verhaltensmuster und Charaktermasken der Beteiligten befragbar, erweiterbar, veränderbar. Zugleich erweisen sich darin die kollektiven Gehalte der individuellen Blockaden und Defizite. Zum Vorschein gelangt, als szenische Realität, die Möglichkeit eines solidarischen Gruppenverhältnisses. Die unter den Gesetzen des Tausches angetretenen Subjekte, die wirkungsvoller, origineller oder anpassungsfähiger werden möchten, erleben so in der gespielten Wirklichkeit den oder das Andere als eine Chance, die gemeinsam verantwortet werden kann (vgl. Lévinas 231: Nach Lévinas entsteht in der filterlosen Einstellung auf das Gegenwärtige der Blick für die bloße Präsenz der Zeichen als authentische Spur.  Darin  schlägt  Intentionalität  in Responsivität um.).

Auf der Ebene der Operationalisierung der DK für pädagogische oder kommunikative Zwecke bedarf es neben der Fachlichkeit des Spielleiters, die sich den theatralen Formen des Austauschs und der Vergegenständlichung verdankt, in gleichem Maße auch einer solidarischen Kompetenz. Sie ist gerade dann von Bedeutung, wenn das, was hinter den Verpanzerungen zum Ausdruck kommt, nicht sogleich als Spielangebot taugt, tauschbar ist. Hier zählt nicht der ästhetische Gewinn, sondern allein zunächst ein gelassenes Zulassen und Standhalten. Es ist Voraussetzung für die Entwicklung eines Gemeinschaftssinns, der gerade in der existenziellen Spur, wenn sie als Leid, als Trauer, als Gewalt oder Hilflosigkeit auftritt, das verbindende, sozialisierende  Moment sieht.

Neben den notwendigen Techniken der Kollektivierung der existenziellen Befunde in Bildern und szenischen Arrangements (vgl. etwa Brechts Methode des soziologischen Experiments; Boals analytische Spieltechniken), die die DK von Formen der Therapie unterscheidet, steht hier die Haltung des Spielleiters als emotional Beteiligter und nicht als strategisch Planender. Sein sympathetisches Vermögen gibt den Beteiligten die Gewissheit, dass sie gefordert, aber nicht überfordert sind.

Kommunikative Kompetenz im Sinne der DK ist ohne den Durchgang durch die existenziellen Befunde nicht zu erzielen. Sie sind der Stoff, an dem sich Menschen bilden. Auf diesen Stoff greift auch Theater – seit alters her – zurück.

Boal, Augusto: Identifikation, Wiedererkennen, Resonanz. In: Ders.: Der Regenbogen der Wünsche. Seelze 1999; Bundesverband Theaterpädagogik. Bildungskommission. Entwurf u. Redaktion Harald Schneider, Bernd Ruping. In: Korrespondenzen, 1994, H. 19/20/21; Hentschel, Ulrike/ Koch, Gerd: Kerncurriculum Theaterpädagogik. In: Korrespondenzen, 1995, H. 23/24/25; Jakobson, Roman: Poetik. Frankfurt a. M. 1979; Koch, Gerd: Lernen mit Bert Brecht. Frankfurt a. M. 1988; Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München 1999; Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002; Ruping, Bernd: Die Brauchbarkeit des Ästhetischen. In: Korrespondenzen, 2001, H. 38; Schneider, Harald: Vorbemerkung zu den Lehrplänen der Spielstatt Ulm. Ulm 1993.

BERND RUPING

Ästhetische Bildung – Angst und Kunst – Dialog – Spielleitung – Zielgruppe