Drama in Education

DiE hat sich als methodisches Prinzip seit den 1950er Jahren in England entwickelt, um mit Schülern über ,Drama‘ einen Zugang zu den Themen der Zeit zu finden. Des Weiteren etablierte sich DiE in den USA, in Kanada und Australien, wo es in seiner didaktischen Konzeption eine Spezialisierung des educational drama darstellt. In Europa hat sich DiE über Großbritannien hinaus hauptsächlich in den Niederlanden und Skandinavien verbreiten können. Insbesondere durch die internationale Workshoparbeit der Engländerin Dorothy Heathcote setzte sich DiE im angelsächsischen Sprachraum durch und fand dort als Methodik Eingang in die Curricula der allgemeinbildenden Schulen. Weitere Vertreter sind Gavin Bolton, Richard Courtney, Sue Jennings, Peter Slade. In dem Entwurf einer education in drama versucht David Hornbrooks der Didaktik des DiE zu entgegnen, indem er das Drama als eine künstlerische Disziplin definiert und seine Arbeit  als  Teil  der  Ästhetischen  Bildung  sehen möchte.

Unter der Bezeichnung DiE halten zunehmend mehr allgemeinpädagogische Methoden Einzug in die Klassenzimmer, die auch unter dem Begriff der Theatralisierung von Lehr- und Lernprozessen thematisiert werden. Mittlerweile kommt DiE in zahlreichen Fächern zur Anwendung, insbesondere wenn grundlegende Fähigkeiten in den Bereichen Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung, Sozialkompetenz oder Teamfähigkeit vermittelt werden sollen. ,Drama‘ ist dabei nicht als literarische Gattung zu verstehen, sondern bezeichnet eine szenische Situation des Hier und Jetzt im Sinne einer auch szenisch/dramatisch lesbaren sozialen Wirklichkeit. Als methodische Grundlage bedient sich das DiE des Moments des „Alsob“. Im DiE bezieht sich das „So-tun-als-ob“ des Rollenspielens auf eine Verabredung innerhalb eines festgelegten sozialen Kontextes; Rolle muss daher als soziale Rolle, als Rollenerwartung verstanden werden und steht immer in Beziehung zum eigenen Ich.

DiE nutzt Theatertechniken, diese aber stets als Mittel zum Zweck, der immer mit einer pädagogischen oder sozialen Zielsetzung verbunden ist. In der sozialen Situation ,Drama‘ „handeln die beteiligten Akteure aber nicht als vorgestellte andere, als Charaktere oder Rollen im theatralischen Sinne, sondern auf der Basis der eigenen, persönlichen Erfahrungen […] mit dem Ziel von Erkenntnis für sich selbst als Akteure und nicht für Zuschauende“ (Klebl 121). Nicht die Erarbeitung eines künstlerischen Produkts steht im Zentrum der Beschäftigung, sondern die prozessuale Annäherung an Haltungen gegenüber einem Thema im Unterschied zum ästhetischen Schaffen von Charakteren.

Die Idee des DiE ist so erfolgreich, dass eine Trennung zu educational drama, der weitläufigeren Bezeichnung für thp Handeln, nur noch schwer vorzunehmen ist. Die als sozial bezeichnete Situation innerhalb des ,Drama‘-Spiels unterscheidet sich jedoch grundlegend von der Kommunikationsstruktur des Theaters. Drama als in sich abgeschlossenes System besitzt eine nach innen gerichtete Wirkungsabsicht, denn es geht nicht darum, „Handlungsmöglichkeiten für die Bühne oder das wahre Leben zu erwerben und zu erproben, sondern innerhalb der Situation unmittelbare Erfahrungen aus erster Hand zu machen und so Erkenntnisse zu gewinnen“ (Klebl 121). Erst auf dem zweiten Weg über das im DiE-Prozess beteiligte und reflektierende Subjekt können diese Erkenntnisse in ihrer Wirkung auch nach außen gelangen. DiE nutzt auf der einen Seite die anthropologische Eigenschaft des Spielens in einer „Als-ob“-Situation, gleichzeitig wird diese methodische Gelegenheit genutzt, um pädagogische Prozesse zu steuern. „Obwohl die Schüler eine notwendige Distanz wahren, ist die hinter einem Großteil dieser Arbeitsweisen steckende Theorie die, daß das körperliche und affektive Engagement in der gespielten Situation zu entdeckendem (teilnehmendem) Lernen führt“ (Somers 28).

Auf den Erfahrungen der Drama-Methoden aufbauend, arbeiten Methoden der theatre education, denn auch das Darstellende  Spiel  nimmt  für  sich  eine Vermittlung der Sozialkompetenzen in Anspruch. Szatkowski definiert die Beziehung beider Ansätze wie folgt: „theatre education as learning to make theatre and drama education as learning from learning to make theatre“(zit. n. Aaltonen u. a. 11). Unterschieden wird hierbei, ob theatrales Handeln von einer Intention des Theaters oder der Pädagogik ausgeht. Nicht die Simulation von Haltungen, sondern die Konstruktion von theatralen Situationen und Bühnenfiguren mit Unterstützung von Handlungstechniken der ästhetischen Bildung stehen im Zentrum des als ,Darstellendes Spiel‘ bezeichneten Faches der theatre education. Zu unterscheiden sind daher vier Formen von educational drama:

Drama education: Dramapädagogik ist gekennzeichnet durch ein Lernen durch Drama und ein Lernen im Drama. Im Vordergrund steht der kreative Umgang mit dramatischen Texten über produktive Rezeption dramatischer Literatur und handlungsorientierter Aneignung von Dramentexten bis zum Schreiben eigener Dramen. Beachtet wird hierbei stets die elementare Beziehung zwischen Drama und Handlung, was sich in unterrichtsmethodischen Entscheidungen widerspiegelt: „Was das Drama als ästhetisches Zeichensystem primär signifiziert, ist das handlungsfähige Individuum, das handelt und Handlung hervorbringt.“ (Waldmann 3) Drama in education: Als soziale Unterrichtsform beinhaltet DiE ein interaktives Spiel von Teilnehmern in der Bewusstwerdung und Reflexion ihrer eigenen (sozialen) Rollen im gesellschaftlichen Kontext. Es wird mit dem Ziel subjektiver Erkenntnisgewinnung aus unterschiedlichen (gesellschaftlichen) Situationen heraus mit den individuellen sozialen Rollen ,gespielt‘. Theatre education: Dieser Begriff ist synonym zu setzen mit ,ThP‘. Im Kontext der ästhetischen Bildung hat die ThP zur Aufgabe, die künstlerische Auseinandersetzung mit sozialen Wirklichkeiten zu ermöglichen. Diesbezüglich konzentriert sich die Arbeit an den Bedingungen, die sich aus der von Bentley aufgezeigten spezifischen Kommunikationsstruktur des Theaters ergeben, innerhalb der eine Person A so tut als ob sie eine Person B sei und dieses für ein Publikum C darstellt . Über die künstlerische Erarbeitung von Rollen wird dem spielenden Subjekt wie zugleich auch dem rezipierenden Zuschauer die Differenz zwischen sozialer und theatraler Wirklichkeit ermöglicht mit dem Ziel der individuellen Erkenntniserweiterung. Das Ästhetische dient sowohl als Code der Verdeutlichung gesellschaftlicher Zustände als auch als Schutzraum der Darstellung.

Theatre in education (TiE): Unter diesem Fachterminus sind Aufführungen professioneller Theaterensembles zu verstehen, die es sich zur Verpflichtung gemacht haben, direkt an den Orten der Edukation zu spielen. Somit wird eine produktive Kooperation zwischen  Schule  und  den  Theatermachern ermöglicht; oftmals orientiert sich das TiE an den Lehrplänen der Schulen. Als Ziele des TiE sind zum einen die ästhetischen Erfahrungen für Schüler zu nennen, zum anderen jedoch der Versuch, auf einer interpersonellen Ebene Haltungen und Einstellungen zu den dargestellten Themen zu  reflektieren.

Wichtig für die Lehr- und Lernmethode DiE ist, dass die Schüler sich umfassend am Lernprozess beteiligen und nicht nur ein kulturell begründetes Wissen reproduzieren. Wenngleich ,Drama‘ genutzt wird, um Themen sozialer Wirklichkeiten zu (re-)konstruieren, erfolgt dies vor dem Hintergrund, (1.) das Interesse der Schüler zu motivieren, (2.) Erkenntnisse aus zwischenmenschlichem Verhalten nachzuvollziehen und zu verstehen und (3.) im Anschluss daran, Haltungsänderungen bei den beteiligten Subjekten zu erzielen. Eine Möglichkeit im Umgang mit der situativen Komplexität postmoderner Gesellschaftsstrukturen zeigt sich in der Fähigkeit zur ,Differenzwahrnehmung‘. Nicht nur die systemtheoretische Relation von System und Umwelt, auch das bewusste dialektische ,Spielen‘ mit den individuellen sozialen Rollen führt auf eine Ebene der Metakognition, der von Luhmann bezeichneten  ,Beobachtung  II.  Ordnung‘.  Der  Begriff der ,Differenz‘ gilt als ein Schlüsselbegriff der Postmoderne wie auch des konstruktivistischen Denkens, da hiermit nicht nur die Akzeptanz von Unterschieden postuliert wird, sondern Pluralität und Widersprüche als Strukturmerkmale moderner Gesellschaften thematisiert werden. „Ohne die Wahrnehmung von Differenzen verkümmern die Wirklichkeitskonstruktionen“ (Siebert 94).

In Anlehnung an Watzlawick thematisiert DiE über das Bewusstsein, dass ,man nicht nicht in Rolle sein kann‘, das Intersubjektive von Gesellschaft und regt durch das Einnehmen verschiedener Rollen zum Perspektivenwechsel an. Wie verhält sich der Einzelne in einer bestimmten sozialen Situation? Wie unterschiedlich reagieren Menschen auf gesellschaftliche Ereignisse?

Der Erfahrungsraum Drama beschäftigt sich nicht nur mit dem Inhalt des Geschehens, sondern insbesondere mit körperlichen, gestischen und mimischen Interaktionen und dem emotionalen Verhalten in diesen Situationen. Somit werden Wahrnehmungen und Erfahrungen der beteiligten Subjekte nicht ignoriert, sondern bewusst aktiviert und konkret in den Erkenntnisprozess einbezogen. Über diesen Weg kann gelernt werden, „den eigenen Standpunkt zu vertreten oder zu modifizieren und zu verstehen, wie ein soziales Miteinander aussehen und verbessert werden kann“ (Kempe u. a. 17). Um dieses Ziel zu erreichen, bewegt sich DiE in der praktischen Anwendung zwischen zwei Wirklichkeitsebenen: einer sozialen Wirklichkeit des Augenblicks und einer dramatischen Wirklichkeit, die einen (re-)konstruierten Ausschnitt von sozialer Wirklichkeit darstellt. Die Differenz der Wahrnehmung zwischen den Wirklichkeitsebenen ermöglicht ein Lernen im Sinne von  Erkenntniserweiterung.

Aaltonen, Heli/Ostern, Anna-Lena (Hg.): Organising  Young people’s dramatic practices. Jyväskylä 2001; Bentley, Eric: Das lebendige Drama. Velber 1967; Bolton, Gavin: Towards a Theory of Drama in Education. London 1981; Göhmann, Lars: Theatrale Wirklichkeiten. Möglichkeiten und Grenzen einer systemisch-konstruktivistischen Theaterpädagogik im Kontext ästhetischer Bildung. Milow 2003; Hornbrook, David: Education in Drama. London 1991; Kempe, Andy/Winkelmann, Ulrike: Das Klassenzimmer als Bühne. Donauwörth 1998; Klebl, Michael: Kein Theater ohne Theater. In: Belgrad, Jürgen (Hg.): TheaterSpiel. Hohengehren 1997; Levenstein, Marla: Die Ästhetik der Gefühle. In: Belgrad, ebd.; Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung, Bd. 1. Opladen 1991; Scheller; Ingo: Szenisches Spiel. Berlin 1998; Siebert, Horst: Pädagogischer Konstruktivismus. Neuwied 1999; Somers, John: Theatre und Drama im Britischen Schulsystem. In: Spiel & Bühne, 1984, H. 155/ 156/157; Sting, Wolfgang: Die künstlerische Praxis des Schultheaters. In: Bundesarbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel/Körber-Stiftung (Hg.): Theater in der Schule. Hamburg 2000; Wagner, Betty Jane: Dorothy Heathcote – Drama as a Learning Medium. Portland 1999; Dies.: Educational Drama. Stanford 1999; Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit dem Drama. Hohengehren 1996; Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Berlin 1994.

LARS GÖHMANN

Deutsch  als  Fremdsprache  –  Deutschunterricht  – Interaktion – Konstruktivismus – Performance – Prozess und Produkt – Rollenarbeit – Szenische Interpretation – Theaterarbeit in sozialen Feldern – Theaterpädagogischer Dienst