Fastnachtspiel

Das F stellt den Beginn der weltlichen Dramatik in Deutschland dar. Gelegentlich wird damit das deutschsprachige weltliche Drama des Spätmittelalters und des 16. Jhs. überhaupt bezeichnet. Es ist als literarisch-theatralische Form greifbar ab 1430 und verschwindet nach 1600 wieder aus der Literatur. Besonders tradiert ist es in Nürnberg, es kommt aber auch in Sterzing (Südtirol), Lübeck, im Elsass und in der Schweiz (Luzern, Basel, Winterthur) vor.

Anlass des F ist die Feier der mittelalterlichen Fastnacht. Ist der Jahreslauf im Mittelalter weitgehend geprägt durch kirchliche Feste, so stellt die Zeit der Fastnacht eine besondere Periode der ,Diesseitigkeit‘ dar. Die Fastnacht wird beendet mit dem Beginn  des vierzigtägigen österlichen Fastens, einer Zeit intensiver kirchlich bestimmter Askese. Die ausgelassene Derbheit steht für Eckehard Catholy in unmittelbarem Zusammenhang mit der folgenden durch Strenge geprägten Fastenzeit. „Um der Fastenzeit einen möglichst strengen Charakter geben zu können, zeigt die Kirche sich in der vorausgehenden Zeit tolerant. […] Die betonte Diesseitigkeit dieser Periode des Kirchenjahres leitet sich nicht zuletzt aus der Koinzidenz der Vorfastenzeit mit der Zeit des Vorfrühlings und seines Brauchtums her. […] Derbe Ausgelassenheit beherrscht auch im 15. Jahrhundert noch den Zeitraum der Feiern. Inhaltlich läßt sie sich bestimmen durch die Betonung der animalischen und vitalen Seite des menschlichen Lebens: Trinken und Essen, das Sexuelle und das Fäkale sind die hauptsächlichen Inhalte einer oft wilden, oft ästhetisch gebändigten Ausgelassenheit“ (Catholy 1966, 11f.).

Die Feiernden waren in der Fastnacht alle maskiert, sie nahmen an Umzügen teil und kamen zum Feiern zusammen. Das F fand während des geselligen Beisammenseins innerhalb der Fastnacht statt; Spielort war meist die Wirtsstube. Besonders die frühen F des 15. Jhs. haben durch die Aufführungsverhältnisse einen direkten, unmittelbaren Kontakt zum Publikum: Die Spielfläche ist inmitten der Zuschauer, es gibt kein Podium, keine Dekoration, nur gelegentlich einfache Gegenstände als Requisiten (vgl. Bastian 13). Ziel war im Allgemeinen ein Beitrag zur Fastnacht-Unterhaltung. Dieter Wuttke weist jedoch auf einige Ausnahmen hin. Er erwähnt neun Spiele, „deren erklärtes Ziel nicht ist, Beitrag einer leichten Fastnachtsunterhaltung zu sein. In ihnen kommt vielmehr eine gegenläufige Tendenz zu Wort: Sie wollen den Trubel durch ernste Besinnung unterbrechen“ (Wuttke 424). Deshalb empfiehlt er auch folgende Beschreibung: „Das Fastnachtspiel ist diejenige Gattung des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen weltlichen Dramas, das entweder als belustigender Beitrag zum Fastnachtstreiben oder als bewußt ernste Unterbrechung des Fastnachtstrubels erdichtet wurde“ (Wuttke  435).

Besonders in seiner frühen Form öffnete sich das F dem Publikum intensiv. Catholy sieht diese Öffnung in der ursprünglichen Funktion des F begründet (vgl. Catholy 1966, 64). Hagen Bastian, der sich in seiner Untersuchung auf die Zeit 1430–1500 und den Ort Nürnberg begrenzt, spricht direkt von der „spielerischen Aktivierung der Zuschauer“ (Bastian 11). „Zielstrebig unternehmen sie es, das Interesse der Zuschauer für das szenische Geschehen anzuregen und sie zum ,spielerischen‘ Mitdenken, Miträtseln, Mitentscheiden zu ermuntern.“ (Bastian 14)

Nach Catholy (1966) hat das F folgende Beziehungsstruktur zwischen Spieler und Zuschauer:

Ausgangspunkt für die Entwicklung des F ist der komische Einzelvortrag, aus ihm entwickelt sich das Reihenspiel, das schließlich ins Handlungsspiel übergeht; es gibt auch Mischformen aus Reihen- und Handlungsspiel.

Der Einzelvortrag: „Zunächst ist das Fastnachtspiel nichts weiter als eine einfache Aneinanderreihung komischer Einzelvorträge“ (Catholy 1966, 26). Die Einzelvorträge wurden von ,Praecursor‘, ,Vorläufer‘ oder ,Einredner‘ genannten Sprechern in gleichlautenden Wendungen angekündigt. Die Einzelvorträge konnten immer wieder auch durch das Publikum unterbrochen werden. Aufführende und Zuhörende lassen sich nicht grundsätzlich trennen (vgl. Catholy 1966, 19). „Der Charakter des geselligen Beisammenseins wird wesentlich durch die Gleichberechtigung und Aktivität aller Anwesenden bestimmt […]. Die Mitwirkung der Zuhörer bei der Auflösung der Witze, Rätsel, Bilder, die sich vor allem im Lachen manifestiert, macht erst den Reiz einer solchen Darbietung für die Gesellschaft aus […]. Da jeder Zuhörer selbst ein potentieller Darbietender ist, der im nächsten Augenblick in Aktion treten kann, gibt es keinen Unterschied zwischen ,Aktiven‘ und ,Aufnehmenden‘“ (ebd. 14). Das Reihenspiel: Die Aneinanderreihung dieser Einzelvorträge und die Übernahme durch eine Gruppe führt zum Reihenspiel oder Revuespiel (vgl. Wuttke 419). In den einfachsten Reihenspielen ist die Aktivität der Zuhörenden nur wenig beschränkt. „Sie kommen zwischen den einzelnen – kurzen – Vorträgen durch Lachen, Klatschen, Zwischenrufe etc. zu ihrem Recht“ (ebd. 27). Dennoch entsteht immer mehr ein Streben nach Autonomie der Spielenden; äußerlich lässt es sich erkennen in dem Bestreben, die Spielebene vom Publikum  zu trennen.

„Eine Gruppe junger Männer – meist Handwerksgesellen – betritt den Raum, wo die Fastnachtspiel-Geselligkeit bereits in vollem Gange ist, führt ihr Spiel  vor  und  geht  anschließend  wieder  davon, meist um in einem anderen fastnächtlich versammelten Kreis das gleiche Stück darzustellen […]. Die Identität von Darbietenden und Zuhörenden ist also hier aufgehoben, die theatralische Grundsituation der Trennung von Bühne und Publikum prinzipiell angedeutet“ (ebd. 19). Allzu scharf war die Trennung dennoch nicht, da es sich nicht um Berufsspieler handelte.

Das Handlungsspiel: Wird in den Reihenspielen allenfalls eine Geschichte erzählt, so wird im Handlungsspiel diese Geschichte oder die Aneinanderreihung von Vorkommnissen körperlich dargestellt. Das Handlungsspiel scheint insgesamt die geschlossenste Form zu sein; dennoch gibt es immer wieder Elemente, die auf die Aktivität der Zuschauer bezogen sind. „Es sind die gleichen Elemente, die die aktivierende Wirkung des Einzelvortrags ausmachen, vor allem Wortwitz, Bildrätsel, Schimpftirade und Priamel“ (ebd. 37).

Hans Rosenplüt (15. Jh.) verwendet ausschließlich die Form des Reihenspiels, von dem jüngeren Hans Folz sind dagegen fast nur Handlungsspiele überliefert. Im Allgemeinen stand Reihenspiel neben Handlungsspiel; vielfach wurde auch eine Mischform aus beidem vorgeführt (vgl. Wuttke 419ff.). Hans Sachs greift die Tradition des Nürnberger F auf. Seine F des 16. Jhs. zeigen eine größere Gewichtung auf die Handlung hin. „An Stelle des vorwiegend erzählenden Einzelvortrags tritt bei Sachs der vergegenwärtigende, handlungsbezogene Dialog in den Mittelpunkt des Fastnachtspiels.“ (Catholy 1966, 56) Dennoch bleibt ein Teil zum Publikum gewandt. „Wie nahezu die Hälfte seiner Fastnachtspiele zeigt, ist Sachs jedoch auch der zum Publikum gewandte Stückschluß noch vertraut. Wo Hans Sachs am Ende seiner Fastnachtspiele die Spielsphäre verläßt und sich direkt zum Publikum wendet, ist dies zumeist in der lehrhaften Absicht begründet. Es handelt sich dabei um sentenziöse Verallgemeinerungen des Spielinhalts, um Ermahnungen und Belehrungen der Zuhörer“ (Catholy 1966, 55). Sachs hatte eine feste Truppe, für die er schrieb. Diese Truppe zog zunächst zum Spielen umher; später hatte sie einen festen Ort und das Publikum kam zu ihr (vgl. Wuttke 433).

Das ,regellose‘ Treiben der Fastnacht steht unter den Regeln der Geselligkeit und den Regeln der ,verkehrten Welt‘. Theater inmitten dieses Trubels entwickelt sich aus diesen Umständen: Es ist derb, direkt, laut, kurz. Die von den Spielern propagierten Regeln sind eher das Publikum einschränkend (also eher Reduktionsals Animationsregeln), so wie die Spieler auch durch ihre Handlungen den Raum für einen Moment dem allgemeinen Tanz entziehen, in das die Stücke am Ende jedoch vielfach wieder einmünden. Die Entwicklung des F geht von geringerer zu stärkerer Regelung, zu größerer Autonomie der Spieler, zur stärkeren Zurückdrängung bzw. Dämpfung der Zuschauer. Grundsätzlich ist das F wohl zu verstehen als eine nur partiell festgelegte Aufführung, die immer wieder an der Öffnung zum Publikum interessiert ist und sich dem jeweiligen Publikum anpasst (vgl. Catholy 1966, 49).

Bastian, Hagen: Mummenschanz. Sinneslust und Gefühlsbeherrschung im Fastnachtsspiel des 15. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1983; Catholy, Eckehard: Das Fastnachtsspiel des Spätmittelalters. Gestalt und Funktion. Tübingen 1961; Ders.: Fastnachtsspiel. Stuttgart 1966; Krohn, Rüdiger: Der unanständige Bürger. Untersuchungen zum Obszönen  in den Nürnberger Fastnachtsspielen des 15. Jahrhunderts. Kronberg (Ts.) 1974; Spiewok, Wolfgang: Das deutsche Fastnachtsspiel. Ursprung, Funktion, Aufführungspraxis. Greifswald 1993; Wuttke, Dieter (Hg.): Fastnachtsspiele des 15. und 16. Jahrhunderts. Stuttgart

DAGMAR DÖRGER

Mit Genehmigung der Autorin entnommen aus: Animationstheater. Frankfurt a. M. 1993.

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