Geschichte der Pädagogik
Wie haben Kinder und Jugendliche in früheren Zeiten gelebt? Unter welchen sozialen, ökonomischen und materiellen Bedingungen wuchsen sie konkret in die Gesellschaft hinein? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Realgeschichte der Pädagogik. Welche pädagogischen Vorstellungen, Ideen und Konzepte wurden entwickelt, gab es so etwas wie eine ,Theorie‘ der Erziehung? Diese Fragen sind Gegenstand der Ideengeschichte der Pädagogik. Beide Ebenen hängen untrennbar zusammen.
Die GdP lässt sich in sieben Epochen einteilen, wobei diese Einteilung eher einer heutigen Orientierung als einer genauen historischen Differenzierung dient. Auch ist die übliche pädagogische Historiographie eurozentristisch, auf männliche Pädagogen fixiert und wenig international. Das alte Ägypten zum Beispiel, China, Mexiko oder Indien sind in deutschen Darstellungen nicht zu finden.
Erste Epoche: Die Antike (ab 500 v. Chr.) – Wichtige Wurzeln unseres pädagogischen Denkens liegen in dieser ersten Epoche, der griechisch-römischen Antike. Insbesondere der Begriff der paideia (Erziehung, Bildung) spielt eine zentrale Rolle. Bildung zielte (übrigens nur für die Söhne der freien Bürger!) auf die Bewältigung des Lebens in der polis, dem griechischen Stadtstaat, war also zuerst politische Bildung. Sie sollte nach Platon aber auch zur Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen führen mit der höchsten Idee eines guten und gerechten Lebens für alle. Eine wichtige Rolle spielte dabei die griechische Tragödie (weniger die Komödie), die phobos und eleos (Furcht und Mitleid) erwecken wollte. In der römischen Zeit rückten dann vor allem ,Tugenden‘ in den Mittelpunkt, z.B.. Tapferkeit, Mut und politisches Geschick sowie die Ausbildung in den ,Sieben freien Künsten‘ (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Astronomie, Geometrie, Arithmetik, Musiklehre – bis weit in das Mittelalter der Lehrplan des Abendlandes). Schulen für das Volk aber gab es nicht, Bildung war gedacht für die Elite. Überformt wurden diese antiken Bildungs- und Erziehungsvorstellungen im Mittelalter vor allem durch das Christentum.
Zweite Epoche: Das Mittelalter (bis zur Reformation) – Bildung und Erziehung galten vor allem dem klerikalen Nachwuchs. Nicht mehr die Erkenntnis des Guten war höchstes Bildungsziel, sondern die Einübung in die Nachfolge Christi, wobei Latein die Sprache des Klerus war. Kloster-, Dom- und Stiftschulen übernahmen diese Aufgabe. Erst mit dem wachsenden europäischen Handel wurden zunehmend ,Deutsche Schreib- und Leseschulen‘ gegründet, die dem neu entstehenden Kaufmannsstand eine ,moderne‘ Bildung (u.a. auch Fremdsprachen) vermittelten. Das Volk hingegen wuchs in die Gesellschaft hinein durch Übernahme von Sitten, Brauchtum und Religion. Umherziehende Theatergruppen dienten eher der Volksbelustigung, weniger der ,Erziehung‘. Ein gewaltiger Einschnitt ergab sich in der GdP mit den Umbrüchen der Renaissance (Entdeckung neuer Kontinente, Erfindung des Buchdrucks u. a. m.), etwas später dann mit den Umwälzungen durch die Reformation (Luthers Gedanke des allgemeinen Priestertums), verbunden mit der Forderung erster (Katechismus-) Schulen für das Volk. Dritte Epoche: Der Umbruch vom Mittelalter zur Moderne (1600–1700) – Die unvorstellbaren Wirren des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) führten zu Plänen einer radikalen Umgestaltung des Bildungs- und Erziehungswesens, z. B. bei Comenius (1592–1670). Zum ersten Mal wurden Ideen zum Aufbau eines Schulwesens entwickelt, das für alle Menschen die notwendige Bildung und Erziehung vermitteln sollte. Comenius wollte ,alle alles umfassend‘ lehren (omnes, omnia, omnino) und entwickelte dazu eine ,Große Didaktik‘ und den Plan eines gestuften Schulwesens für alle Kinder des Volkes (Vorläufer heutiger Gesamtschulideen), „das war gesellschaftspolitisch ein unerhört kühner, ja revolutionärer Anspruch“ (Blankertz 35), obwohl Comenius stark religiös orientiert war. Doch es dauerte lange Zeit, bis diese Ideen zur Gestaltung des Bildungs- und Erziehungswesens in Ansätzen Wirklichkeit wurden. Die Aufklärung – auch das ,Pädagogische Jahrhundert‘ genannt – warf ihre Schatten voraus.
Vierte Epoche: Die Aufklärung oder das Pädagogische Jahrhundert (1700–1800) – Große Denker wie z. B. Locke, Kant, Schiller, Bacon, Goethe, aber auch Rousseau, wenig später Pestalozzi, beschäftigten sich intensiv mit Fragen der Erziehung und Bildung. Die Zeit der großen Schauspiele mit nicht zuletzt pädagogisch-bildender Intention begann. Realgeschichtlich aber prägte eine sich stark verändernde alltägliche Wirklichkeit das Leben der Menschen. Dies zeigte sich in der Entstehung von drei großen Systemen: (1.) das ökonomische System, die beginnende kapitalistische Marktwirtschaft; (2.) das politisch-administrative System, vor allem als zentralisierte Institution des modernen Verfassungsstaates; (3.) das kulturelle System, vor allem die moderne Wissenschaft, Erziehung und Bildung. Der Glaube an die Machbarkeit der Verhältnisse und das Vertrauen in die Vernunft des Menschen waren fortan Grundlage der pädagogischen Ideen. Erziehung und Bildung gewannen eine widersprüchliche Funktion: Einerseits sollten sie Grundlage für den Fortschritt sein, andererseits Kampf gegen die negativen Folgen dieses Fortschritts. Die Romantik (etwa mit Froebel) suchte dabei in der Natur des noch unverstellten Kindes die Möglichkeit eines Neuanfangs gegen den Verlust des Menschlichen in einer sich entfremdenden Kultur.
Von nicht zu überschätzender Bedeutung für die GdP sind die Werke Rousseaus und Pestalozzis. Wollte Rousseau (z. B. in seinem Erziehungsroman Émile) den wahren Gang der Erziehung auf der Grundlage der ,Natur des Menschen‘ skizzieren, entwarf Pestalozzi ein anthropologisch realistischeres Bild vom Menschen, das er zur Grundlage einer Neugestaltung der Gesellschaft durch Erziehung machen wollte. Vielfach wurden diese Ideen aufgenommen, z. B. in der Bewegung der Philanthropen mit ihren revolutionären Schulgründungen (Basedow, Rochow, Salzmann) oder auch in den Industrieschulen, die freilich Bildung des Menschen auf Nützlichkeit und Brauchbarkeit für das Leben in der Industriegesellschaft reduzierten. Aber die Gedanken von Rousseau und Pestalozzi wirken bis heute auf die Pädagogik ein.
Fünfte Epoche: Die deutsche Klassik – Erziehung und Bildung in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft (1800– 1900) – Es gab wohl kaum eine Epoche, die eine solche Fülle pädagogischer Ideen zur Reform des Bildungswesens hervorgebracht hat wie die Zeit vor allem in Preußen nach den verheerenden Niederlagen in den napoleonischen Kriegen. Hier liegen die Wurzeln für die Entstehung unseres heutigen Bildungssystems. Von Herders Bemühung um eine Wiederbelebung der deutschen Volkskultur über Fichtes gewaltige Reden an die deutsche Nation, Herbarts Grundlegung eines modernen, didaktisch und lernpsychologisch begründeten (Frontal-)Unterrichts und Diesterwegs Mühen um eine allgemeine Volksbildung bis zu den politischreaktionären Erlassen des Ministers Altenstein (das Volk solle sich in den von Gott gegebenen Grenzen bewegen) reicht die Dynamik dieser Zeit. Es war die Zeit der Entstehung der modernen Universität, des Gymnasiums, der Volksschule und wenig später auch der Realschule. Eine der wichtigsten Figuren dabei war Wilhelm von Humboldt, der mit seinen Ideen der allgemeinen Menschenbildung vor aller standesorientierten Nützlichkeit die Grundlage (freilich orientiert an den Bildungsidealen der griechischen Antike) eines modernen Allgemeinbildungsverständnisses schuf. Beeindruckend ist die Entwicklung der Elementarschulen (bis zum Ende des Jhs. besuchten fast alle Kinder eine Schule, nachdem sich die Schulpflicht seit Beginn des Jhs. langsam durchsetzte). Die Idee der Volksbildung war in das allgemeine Bewusstsein eingedrungen. Die Wirklichkeit der schulischen Bildung erstarrte aber bald mit der zunehmenden Institutionalisierung und der staatlichen Aufsicht. Das musste zu Protesten führen.
Sechste Epoche: Die Reformpädagogik – Protest gegen erstarrte Bildung und Erziehung (1900–1933) – Die (international verflochtene) Reformpädagogik zu Beginn der 20. Jhs. war eher eine Bewegung unterschiedlichster Richtungen, zum Teil politisch motiviert, zum Teil kulturkritisch ausgerichtet, zum Teil pädagogisch orientiert. Gemeinsam war der Protest gegen erstarrte Formen, teilweise mit deutlich nationalistischen Untertönen, teilweise mit internationalen Tendenzen. Wichtigste Teile der Bewegung waren die
,Kulturkritik‘, die Kunsterziehungsbewegung, die sozialpädagogische Bewegung (Reform des Jugendstrafvollzugs, Erneuerung der Fürsorge, neue Heimerziehungsideen), Frauenbewegung, die Jugendbewegung, Schulalternativen (Waldorfschulen, Landerziehungsheime, Arbeitsschulbewegung nach Gaudig und Kerschensteiner, Einheitsschulbewegung bis zu Peter Petersens Jena-Plan-Schulen u. a. m.) und Gründung der Volkshochschulen – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Die Reformpädagogik fand ihr Ende allerdings mit der ,Gleichschaltung‘ in der HJ des Nationalsozialismus. Erziehung und Bildung im Nationalsozialismus degenerierten zu Rollenklischees von Jungen und Mädchen, eingebunden in eine entindividualisierende und rassistische Volksund Gemeinschaftsideologie.
Siebte Epoche: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart – Nach einer an der materiellen Not der Kriegsfolgen orientierten Wiederaufbauphase gelten die 1950er Jahre allgemein als Epoche einer generellen Restauration.
Anders in der DDR. Hier wurde im gesamten Bildungswesen bewusst ein Traditionsbruch eingeleitet. Der Aufbau eines sozialistischen Einheitsschulsystems war in den 1970er Jahren im Wesentlichen abgeschlossen. Ziel war organisatorische und curriculare Einheitlichkeit, die sich auch auf ein gut ausgebautes System von Kinderkrippen, Kindergärten und -horten erstreckte. Unter der Leitidee einer ,Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit‘ entwickelte sich jedoch ein Ungleichgewicht zwischen kollektiver Bindung und individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. In der BRD kommt es erst in den 1960er und 1970er Jahren zu einem erheblichen ,Modernisierungsschub‘, der sowohl die Erziehungspraxis (z. B. in einer liberalisierten Erziehung in den Familien) als auch das Bildungswesen (z. B. in der Einführung der Reformierten Oberstufe des Gymnasiums 1974) erfasste. Die 1980er Jahre sind dann geprägt vom ,Diktat der leeren Kassen‘, nur einzelne Reformansätze wurden weitergeführt (z. B. in Gesamtschulen, in der Curriculumbewegung). Geprägt von den Folgeproblemen der Wiedervereinigung können die 1990er Jahre als Periode pragmatisch machbarer Reformen angesehen werden. In jüngster Zeit haben schließlich breit angelegte internationale Leistungsvergleichsstudien (TIMSS, PISA) zu einer erheblichen Diskussion um die Leistungsfähigkeit des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens geführt.
Blankertz, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982; Handbuch der Deutschen Bildungsgeschichte. 5 Bde. München 1987 ff.; Tenorth, Heinz-Elmar: Geschichte der Erziehung. Weinheim, München 1992.
HERBERT GUDJONS
→ Didaktik – Geschichte der Sozialpädagogik – Lebensbegleitendes Lernen – Lernen und Theater – Methodik – Theaterhistoriographie