Geschichte der Sozialpädagogik
Menschenfreunde haben zu allen Zeiten gefordert, Erziehung als eine allgemeine ‚Menschenbildung‘ zu verstehen und zu betreiben. Die Praxis sah meistens anders aus. Weder wurden ‚Erziehung‘ und ‚Bildung‘ als die beiden Seiten ein und derselben Sache gesehen, noch wurden allen Menschen alle Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, wie Johann Amos Comenius (1592–1670) es in seiner Grossen Didaktik (1657) vergebens gefordert hatte. Erzogen werden Kinder auch heute noch überwiegend in ihren nach Klassen und Schichten, nach Herkommen und Einkommen getrennten Elternhäusern, gebildet werden sie unterschiedlich lange, unterschiedlich intensiv und mit unterschiedlichen Ergebnissen in unterschiedlichen Schulen eines allgemeinen Bildungssystems, dem in international vergleichenden Untersuchungen immer wieder bescheinigt wird, dass es unfähig oder unwillig wäre, ‚allgemeine Menschenbildung‘ zu betreiben.
Das Grundgesetz der BRD legte im Mai 1949 fest, Pflege und Erziehung der Kinder sei „das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“ (GG Artikel 5 [2] und [3]).
Das Ideal einer pflichtgemäßen Erziehung von Kindern im Haushalt der Eltern setzt eine funktionierende Arbeitsteilung zwischen der hausarbeitenden Mutter und dem lohnarbeitenden Vater (oder umgekehrt) voraus – und dazu noch friedliche Zeiten, in denen ein stabiler Haushalt für die ‚ganze Familie‘ existiert und Eltern und Kinder sich nicht wechselseitig verloren gehen. Dort, wo diese Voraussetzungen nicht gegeben waren oder brüchig wurden, erfanden Gesellschaften das, was wir ‚Sozialpädagogik‘ nennen.
Friedrich Oberlin (1740–1826), ein Pfarrer im Elsass, wollte Fabriken in seinen Gemeinden ansiedeln, um Arbeitslosigkeit und Landflucht zu bekämpfen. Dazu musste er die Arbeitskraft von Frauen und Müttern mobilisieren. Wo aber blieben während der Fabrikarbeit der Mütter die Kinder? Oberlin organisierte Kinderbewahranstalten (auch Spielschulen genannt), damit die Mütter regelmäßiger Erwerbsarbeit nachgehen konnten. Evangelische Glaubensgemeinschaften griffen diese Praxis auf und organisierten die Ausbildung von ‚Kleinkinderschullehrerinnen‘.
Friedrich Fröbel (1782–1852), ein Schüler Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827), gründete 1840 in Thüringen den ersten ‚Kindergarten‘ zur Unterstützung der Erziehungstätigkeit nicht berufstätiger Mütter aus bürgerlichem und adeligem Haus. Er ging von einem romantischen, entwicklungspsychologischen Konzept aus, nach dem der Schulbildung eine frühe Pflege kindlicher Gestaltungskräfte durch freie (aber vorsichtig angeleitete) Tätigkeit im Spiel vorausgehen solle. Dazu erfand er die Spielgaben Ball, Würfel, Kugel und Reifen, die er über einen eigenen Versandhandel vertrieb. Um Kinder im ‚rechten Gebrauch dieser Spielgaben‘ zu schulen (und um auch deren Mütter zu unterweisen) bildete Fröbel ‚Spielführerinnen‘ aus, orientierte sie aber im Gegensatz zu Oberlin nicht auf den Schuleintritt, sondern auf ein schulfernes, freies Spiel. Dieses Konzept einer ‚schulfernen Vorschulerziehung‘ setzte sich in Deutschland durch und führte u. a. dazu, dass Kindergärten nicht der Schulverwaltung angegliedert wurden, sondern einer eigenständigen Verwaltung von ‚Jugend, Freizeit und Sport‘. Andere europäische Länder gingen entgegengesetzte Wege und suchten die Kindergärten als Einrichtungen der ‚Vorschule‘ enger auf die soziale und intellektuelle Situation des Schuleintritts zu orientieren. Das galt nicht zuletzt für die DDR, deren Kindergärtnerinnen unter Umständen die Befähigung zum Unterrichten in den ersten Klassen der Grundschule erwerben konnten.
Die neueren international vergleichenden Untersuchungen der OECD über die Leistungen 15-jähriger Schülerinnen und Schüler scheinen denen Recht zu geben, die eine frühzeitige Förderung der kognitiven Fähigkeiten von Kindern im Vorschulalter fordern. Unterstützt werden diese Forderungen durch die Notwendigkeit, angesichts zunehmender Berufstätigkeit auch von jungen Müttern die Zahl der Kindergartenplätze deutlich zu steigern, eine ‚zuverlässige‘ Grundschule einzurichten, die keinen Stundenausfall mehr kennt und die Schulen vom Halbtagsbetrieb auf einen Ganztagsbetrieb umzustellen, damit die Eltern während des ganzen Tages berufstätig sein können.
In der zweiten Hälfte des 20. Jhs. wären solche Forderungen, die damals von Schulreformern, Sozialdemokraten und Sozialisten immer wieder erhoben worden waren, am Widerstand konservativer und klerikaler Kreise gescheitert. Diese Kreise hielten weiterhin die Forderung aufrecht, dass die Erziehung der Kinder die vornehmste Aufgabe der Ursprungsfamilie wäre und dass kommunale Erziehungseinrichtungen und Maßnahmen die Erziehungskraft der Familie nicht schwächen – auch nicht in Konkurrenz zu ihr treten – dürfen. Im Konfliktfall seien Mütter darauf zu orientieren, ihre Berufstätigkeit für eine bestimmte Zeit der ‚Familienphase‘ zu unterbrechen. Andere mitteleuropäische Länder wie Italien und Frankreich sind einen solchen Weg nicht gegangen, sondern sie haben von vornherein auf einen massiven Ausbau sozialpädagogischer Einrichtungen und Maßnahmen nicht nur während des ganzen Jahres, sondern auch und besonders in den schulfreien Ferienzeiten gesetzt (Kinderkolonien und Ferienlager in der Trägerschaft von Kommunen und Firmen).
Die zweite historische Wurzel der Sozialpädagogik in Deutschland führt auf Findelhäuser und Erziehungsheime für Waisenkinder und von ihren Familien ‚verlassene‘ oder ‚verwahrloste Kinder‘ zurück – also auf Situationen, in denen Familienerziehung nicht stattfand, versagte oder dem Kinde körperlichen und seelischen Schaden zufügte. In einem Lande mit einer bestimmten christlichen Tradition, in der die Erziehung der Kinder (und deren Erziehung zum Glauben der Eltern) die erste und oberste Pflicht dieser Eltern war, galt die Erziehung außerhalb des Elternhauses von vornherein als ‚Fremderziehung‘ und ‚Ersatzerziehung‘. Insbesondere im 19. Jh. lag die sog. ‚Heimerziehung‘ vorwiegend in den Händen konfessioneller Trägervereine und hatte als Drill- und Dressur-Erziehung einen denkbar schlechten Ruf. In der ersten Hälfte des 20. Jhs. kam es zu Aufständen in einzelnen Erziehungsheimen. Die sozialdemokratische Presse nahm sich der Vorfälle an. Kommunistische Agitatoren versuchten, die rebellierenden Jugendlichen für ihre Sache zu gewinnen. Die Jugendämter, die eigentlich zur Aufsicht über die Erziehungsheime verpflichtet waren, zeigten sich hilflos. Auf der anderen Seite gab es interessante und wichtige Reformbestrebungen, die an Johann Heinrich Pestalozzi, an dem sowjetischen Reformpädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko (1888–1939) oder dem polnischen Humanisten Janusz Korczak (1878–1942) orientiert waren. Die kulturrevolutionären Bestrebungen der deutschen Studenten- und Sozialarbeiterbewegung zwischen 1967 und 1975 stellten die starren Erziehungsprinzipien der traditionellen Heimerziehung und deren totalen Versorgungsanspruch (‚fürsorgliche Umzingelung‘) infrage und entwickelten experimentelle neue Formen der Ausgliederung eigenverantwortlicher Wohngemeinschaften aus der Totalversorgung in Großheimen und dem ‚betreuten Wohnen‘ unter interner oder externer Beratung durch SozialpädagogInnen. Auch die nach dem 2. Weltkrieg neu entstandenen ‚Kinderdörfer‘ (S.O.S. Kinderdörfer und Albert-Schweitzer-Kinderdörfer und Familienwerke) stellten eine neue Alternative zum traditionellen Erziehungsheim sowohl in organisatorischer als auch in sozialpädagogischer Hinsicht dar.
Die Ausbildung von ErzieherInnen und SozialpädagogInnen (die Begriffe decken sich teilweise, z. T. sind sie von Bundesland zu Bundesland verschieden) wird an Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten betrieben. Psychologie (vor allem Entwicklungspsychologie), Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik, Soziologie und Rechtskunde gehören zum Kern-Curriculum. Eine besondere Rolle spielt die Beachtung der Bedeutung, welche Gleichaltrige für den Sozialisationsprozess von Kindern und Jugendlichen haben. Auch die zunehmende Bedeutung der Bilder-Medien spielt in der Ausbildung eine große Rolle und regt zu vielerlei interessanten Experimenten mit spielerischen Gestaltungsmöglichkeiten, Darstellendem Spiel, Rollenspiel und Psychodrama an. Es hat sich herumgesprochen, dass es falsch wäre, die ehemalige ‚Gängelungspädagogik‘ durch eine zeitgenössische ‚Laissez-faire-Pädagogik‘ zu ersetzen. Dann würden die Jugendlichen ihre Erzieher nämlich recht bald fragen: ,Wofür wirst du eigentlich bezahlt?‘ – so jedenfalls der Titel eines ehemals sehr populären Erziehungsbuches von Götz Aly.
Aden-Grossmann, Wilma: Kindergarten. Eine Einführung in seine Entwicklung und Pädagogik. Weinheim 2002; Aly, Götz: Wofür wirst du eigentlich bezahlt? Berlin 1980; Freigang, Werner/Wolf, Klaus: Heimerziehungsprofile. Sozialpädagogische Porträts. Weinheim 2001; Mollenhauer, Klaus: Einführung in die Sozialpädagogik. Weinheim 2001; Müller, Wolfgang (Hg.): Einführung in die Soziale Arbeit. Weinheim 1995; Ders.: Wie Helfen zum Beruf wurde. Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit, Bd. 1: 1883–1945. Weinheim 1999. Bd. 2: 1945–1995. Weinheim 1997.
WOLFGANG MÜLLER
→ Didaktik – Erlebnispädagogik – Geschichte der Pädagogik – Klassenfahrt als theaterpädagogische Aktion – Kulturelle Bildung – Lebensbegleitendes Lernen – Reformpädagogik – Zielgruppe