Geste
Mit ,Gestikulation‘, ,Geste‘ und → ,Gestus‘ (bisweilen auch mit ,Gebärde‘) werden wichtige Modalitäten des Theaters als Prozess bezeichnet. Für die didaktischen Spielräume der ThP ist die stets neu zu treffende Unterscheidung wichtig. Denn sowohl im künstlerischen Prozess des Theaters als auch im didaktischen der ThP ergibt sich die jeweilige Begrifflichkeit von G (thp Terminologie) aus der Konstellation der anderen Begriffe ,Gestikulation‘, ,Geste‘ ,Gebärde‘, die Wortbedeutung von G (Signifikanz) aus der Konfigurierung im entsprechenden Wortfeld und die mit dem Wort bezeichnete Handlung aus ihrer Beobachtung (Signifikat) in der thp Praxis.
Theaterwissenschaftliche und thp Untersuchungen zeigen, dass eine begriffliche Erfassung des Gestischen so wenig abschließbar ist, wie die praktische Identifikation einer körperlichen Bewegung als gestische Form. In Vereinfachung anthropologischer (vgl. Wulf), anthropologisch-ästhetischer (vgl. zur Lippe), phänomenologischer (vgl. Flusser), kommunikationswissenschaftlicher (vgl. Hübler), soziologischer (vgl. Gebauer 1a.), semiotisch-theaterwissenschaftlicher (vgl. Fischer-Lichte) und thp Forschung und Theorie (vgl. Hanke) lässt sich G für die ThP als eine signifikante Form bestimmen, die eine wie auch immer kinetisch oder sprachlich motivierte Körperbewegung für einen Beobachter annimmt. Dieser Beobachter interpretiert als G eine im körperlichen Bewegungsfluss auftauchende Gestikulation, die für ihn als Form in Erscheinung tritt (die für ihn etwas anderes repräsentiert als die → Bewegung selbst). In diesem Kontext erscheint Gestus als eine überindividuell repräsentative und begreifbare Haltung in körperlicher Bewegung.
Sprach- und Körperbewegungen laufen im Spielprozess des Theaters gegeneinander, parallel zueinander, sind miteinander verschränkt und wechselseitige Repräsentanten (auch Stellvertreter). Das gelegentlich als ,nonverbal‘ (Hübler 11ff.) bezeichnete Gestikulative kann in der G jedoch ebenso signifikant werden, wie die Stimme oder der Laut in einem Wort. Durch bewusste Sprachverwendung werden aus Wörtern Begriffe, durch bewusste Körperbeherrschung und Lenkung der G oder durch Erstarrung zur Wiederholungsfigur oder Attitüde entsteht aus G Gestus, ,Gesten als solche‘, die von dem sie konstituierenden Prozess abstrahieren, indem sie seine Spuren tilgen. Theater wird als ‚lebendig‘ empfunden, wenn es den Prozess darstellt, in dem sich – gleichgültig ob in einer Figur oder in einer Konfiguration – ein bekannter Gestus durch gestikulative Störung in G auflöst, diese an den Rand ihrer Bedeutsamkeit und damit Signifikanz gebracht werden, daraus gestisch Neues Gestalt annimmt, um sich schließlich zu einem neuen Gestus zu verdichten, dessen zunehmender Verlust an Mehrdeutigkeit den Erneuerungsprozess stört und somit selbst eine Störung der Erstarrung, Chaotisierung der Ordnung hervorruft (vgl. Hanke 284ff.). Aus diesem Prozess der Sinngebung und Sinnstörung (der sich in Sprach- und Köperbewegungen und zwischen ihnen gleichermaßen abspielt) gewinnt das Theater seine ästhetischen und die ThP ihre didaktischen Spielräume.
Der Umgang mit G und Gestikulation im ästhetischen und pädagogischen Prozess beeinflusst massiv und grundlegend die Ausrichtung von Kunst und Erziehung. Als Beispiel sei die Zweck/Mittel-Relation einer primär funktionalistischen Orientierung (pädagogischer und ästhetischer Einsatz von gestischen Prinzipien zur Erreichung von politischen Zielen) im Verhältnis zu einer Teilhabe am Störungsprozess der Sinngebung genannt (Auflösung von z. B. Politiker-Gestus in Gestikulation mit der Chance auf eine neue G der Verständigung). Jede Pädagogik, die auf das Erreichen von Ausbildungszielen ausgerichtet ist, neigt zu einer curricularen Funktionalisierung des Sinngebungsprozesses als Formgebungsprozess. Deshalb ist in der ThP die Teilhabe an künstlerischen Prozessen (die eher einer Störung des gesellschaftlich Normativen und des Formenkanons der Bildung zuneigen) ein wichtiges Korrektiv ästhetischer Erziehung. Dieser Prozess ist ein notwendig unabgeschlossener, ist eine ständige Herausforderung an die ThP, sich ihrer Basis im Veränderungsprozess des Theaters und anderer performativer Künste stets neu zu vergewissern.
So zeigt das Beispiel Brechts, dass die praktische Kritik des traditionellen durch das gestische Theater zunächst ein Störungsprozess ist (vgl. Ritter). Dieser aber kann sich selbst in einem Reflexionsprozess wieder zu einem Gestus verhärten, auf den dann performative Dekonstruktionen reagieren, die den Gestus des gestischen Theaters in gestikulative Prozesse auflösen: Das ‚gestische Prinzip‘ ist ein Konzept, das zum Begriff des Gestus führt, weil es darum geht, Gestisches in den Griff zu bekommen, seine gestikulatorische Störungsdimension zu kontrollieren und dadurch die sprachliche Dimension der G zu funktionalisieren (vgl. Hanke 284f.).
Von Bedeutsamkeit der G für den ästhetischen und pädagogischen Prozess im Kontext des Theaters waren Pädagogen und Poeten stets gleichermaßen überzeugt. Die Geschichte des Theaters und der ThP ist somit auch eine Geschichte der Idealisierung des Einsatzes von G zu Zwecken der Erkenntnis und Erfahrung dessen, wofür eine G steht, was sie repräsentiert oder ausdrückt. Diese Idealisierung reicht von der Shakespearschen Aufforderung zur Anpassung der Gebärde ans Wort und des Wortes an die Gebärde (vgl. LuehrsKaiser 44), über die seelisch-mimetische Relation zwischen Schüler und Lehrer in der gestischen ,Arbeitssprache‘ mit der ‚Psychologischen Gebärde‘ (vgl. Cechov 51ff.) bis zur Forderung nach der Erforschung des Animalischen durch körperlich-mimetische Gestikulation (vgl. Grotowski 106ff.). In der Regel wird also davon ausgegangen, dass es sich bei G und Gebärden um Körpersprache und -schrift handelt, die gelesen werden kann und durch die (wenn auch nicht durch begriffliche Reflexion) Zugang zu dem erlangt werden kann, wofür sie steht. Rückt man in der ThP diesen Zug des Gestischen ins Zentrum der Aufmerksamkeit, so vergisst man leicht, dass ein anderer durchaus in den Brennpunkt des thp Interesses zu treten verdient: das Gestische, das keine Repräsentation ist. Für die ThP ist eine Auseinandersetzung mit Herausforderungen wie dem ,Theater der Grausamkeit‘ Artauds deshalb instruktiv, weil hier eine andere Kommunikation als möglich behauptet wird: „Das Theater ist ein leidenschaftliches Überströmen / eine entsetzliche Übertragung von Kräften / vom Körper / zum Körper.“ (vgl. Derrida 378)
Aufgabe der ThP ist es also heute, sowohl das sprachlich Vermittelnde als auch das triebhafte Störende der G in Brennpunkte von didaktischen Spielräumen zu rücken. Denn der theatralische Prozess der Sinngebung ist wesentlich einer, in welchem dem Triebhaften und seiner unbewusst sprachlichen und bewusst begrifflichen Bearbeitung durch G und Gestus Form verliehen wird; er ist einer, in dem Formen als störbar, veränderbar und zerstörbar in Erscheinung treten. Die ThP ist selbst eine solche Form. Wenn sie in Institutionen und Gesellschaften zum thp Gestus wird, dann kann die Erinnerung an die Ambivalenz des Theaterprozesses selbst ein wichtiges Korrektiv im Veränderungsprozess sein, in dem künstlerische performative Gestikulationen, die große gesellschaftliche G des Theaters und der didaktische Gestus der ThP zusammenwirken.
Cechov, Michail A.: Die Kunst des Schauspielers. Moskauer Ausgabe. Stuttgart 1990; Derrida, Jacques: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976; Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1998; Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Bensheim, Düsseldorf 1993; Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbek 1998; Grotowski, Jerzy: Das Training des Schauspielers. In: Ders.: Für ein armes Theater. Zürich 1986; Hanke, Ulrike: Didaktische Spielräume. Konfigurationen eines spiel- und theaterpädagogischen Curriculums für die Ausbildung von Sozialpädagogen. Frankfurt 1.1997; Hübler, Axel: Das Konzept ,Körper‘ in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften. Tübingen, Basel 2001; Lippe, Rudolf zur: Sinnenbewußtsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik. Reinbek 1987; Luehrs-Kaiser, Kai: Exponiertheit als Kriterium von Gesten. In: Egidi, Margreth u. a. (Hg.): Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild. Tübingen 2000; Ritter, Hans Martin: Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht. Köln 1986; Wulf, Christoph: Geste. In: Ders. (Hg.):Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie. Weinheim, Basel 1997.
ULRIKE HANKE
→ Bewegung – Didaktik – Geschichte der Pädagogik – Leiblichkeit