Kinder – und Jugendtheater

Das intellektuell literarisch geprägte Berufstheater des 20. Jhs. im deutschsprachigen Raum verabsäumte es lange Jahre, Theater für Kinder und Jugendliche als Aufgabe zu begreifen. Nur ein deutlich gewachsenes Publikumsinteresse in jüngster Zeit und die gelegentliche Herausbildung von bemerkenswerten bild- und analogiereichen poetischen Übersetzungen rückte einzelne Theaterensembles und regieführende Persönlichkeiten des KuJ immer wieder in den Blick einer Theateröffentlichkeit.

KuJ ist die Bezeichnung für Theateraufführungen professioneller SchauspielerInnen, die sich absichtsvoll und vorzugsweise an Kinder oder Jugendliche wenden, erkennbar an Stoffwahl und Spielweise, Aufführungsort und Aufführungszeit. Das Spiel der Kinder selbst, das Imaginieren von Situationen und das Imitieren anderer, ist zwar, neben dem Ritus und der Versammlung, Ursprung und Wesen des Theaters und wird oft ebenfalls als Kindertheater bezeichnet, ist hier allerdings nicht gemeint (vgl. Fo).

Dabei hat sich unübersehbar in Deutschland im letzten Quartal des 20. Jhs. eine Theaterkunst des KuJ auf hohem ästhetischen Niveau entfaltet. Ein sichtbarer Ausdruck sind ihre Festivals, zumeist mit internationalem Charakter. Das Arbeitstreffen des Freien Theaters ist das Festival Spurensuche, andere beachtete Treffen finden statt in Nordrhein-Westfalen (Traumspiele), in Stuttgart das internationale KuJ-Festival Schöne Aussicht, in Nürnberg (Panoptikum), in Halle die Werkstatttage des KuJ und vor allem in Berlin das alle zwei Jahre stattfindende KuJ-Treffen, veranstaltet vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland mit Sitz in Frankfurt am Main.

Das KuJ im deutschsprachigen Raum stellt in ästhetischer Ausformung und im Umfang eine neuere Entwicklung der Theaterkultur dar, entwickelt aus den pädagogischen Bewegungen der 1970er Jahre. Die ersten Theater mit dieser Aufmerksamkeit für ein jugendliches Publikum und mit der damit verbundenen Erprobung neuartiger Themenstellungen und Spielweisen (unter anderen das Theater im Marienbad in Freiburg, Ömmes und Oimel in Köln, die Theaterwerkstatt in Hannover, Rote Grütze und Grips in Berlin) sind analog zu Formen des politischen Theaters und des Straßentheaters als Freie Gruppen begründet worden, von SchauspielerInnen auf der Suche nach alternativen Arbeitsweisen zum herkömmlichen Stadttheaterbetrieb und nach neuen gesellschaftlichen Herausforderungen. Andere Theater, initiiert von Schul- und Sozialpädagogen, behaupteten Theater für Kinder und Jugendliche als interessanteres Mittel pädagogischer und gesellschaftspolitischer Aktivität. In den 1980er Jahren etablierte sich KuJ mit kleineren und konzentrierten Ensembles an den Stadt- und Staatstheatern und vor allem an Landesbühnen als Sparte oder aber als integrierter Bestandteil des Schauspiels. Neugründungen eigenständiger kommunaler Theater kamen hinzu, dann die KuJ der damaligen DDR. Dort war bereits 1946 als erstes KuJ das Theater der Jungen Welt in Leipzig gegründet worden; es folgten 1949 das Theater der jungen Generation in Dresden, 1950 das Theater der Freundschaft in Berlin, 1952 das Theater der Jungen Garde in Halle und 1969 das Theater für junge Zuschauer in Magdeburg. Sie verstanden sich als Fortführung des seit den frühen 1920er Jahren in der jungen Sowjetunion systematisch betriebenen Aufbaus der KuJ (1920 erste Gründung in Moskau unter Natalja Saz). Wsewolod Meyerhold hatte dort Alinur nach Sternenkind (Märchen von Oscar Wilde) inszeniert. Saz gab auch Sergej Prokowjew den Auftrag, etwas Musikalisches für Kinder zu komponieren, woraus das musikalische Märchen Peter und der Wolf (1936) entstand.

Theater für Kinder und Jugendliche heute ist mittlerweile ein Theater wie jedes andere Theater auch. Es ist wie alle Kunst Ausdruck seiner Zeit. Befassen sich nun Erwachsene mit der Kunst für Kinder, spiegelt diese auch die Vorstellungen der Erwachsenen von einer Kinderwelt wider, zu oft mit den entsprechenden diminutiven Verharmlosungen. Lange Jahre war das Theater für Kinder reduziert auf das die Lebenswirklichkeit von der Bühne verbannende ,Weihnachtsmärchen‘ der Schauspielhäuser (Peterchens Mondfahrt von Gerd von Bassewitz, uraufgeführt 1912). Ungebrochenes Interesse dagegen rufen nach wie vor die Märchenbearbeitungen nach Grimm, Andersen, Hauff und anderen hervor, die aus dem Wechselspiel von moralischer Warnung (,Geh nicht in den Wald!‘), anarchischer tragödienbehafteter Stoffe (,Und dann warfen die Kinder sie in das Feuer‘) und dramatischem Geschehen ihre Faszination und mythische Kraft nicht verloren haben. Romantische wie sozialrealistische Motive gleichermaßen prägten das westdeutsche KuJ der 1950er/60er Jahre mit Theaterstücken nach Motiven von Charles Dickens (Ein Weihnachtslied), Erich Kästner (Emil und die Detektive) oder Friedrich Forster (Robinson soll nicht sterben). Die zeitgemäße Fortsetzung dieser Kindertheaterkultur, nach wie vor als Unterhaltungstheater für Kinder auf der großen Bühne konzipiert, passt sich eher den musiktheatralen Entwicklungen des Musicals an (Das Dschungelbuch von Walt Disney nach Rudyard Kipling, Katzen von Agneta Elers-Jarleman als Kinderfassung des Musicals Cats). Nur im besten Fall vermag es diese Theaterkunst, Anwalt der Heranwachsenden zu sein, ihnen Würde zu verleihen, Respekt für sie einzufordern und ihnen attraktive Sinnesreize zu bieten.

Für das die Theaterkultur der 1980er/90er Jahre prägende emanzipatorische, sozialrealistische Theater, beginnend mit den pädagogischen Bewegungen der 1970er Jahre, ist stilbestimmend das Berliner Grips Theater  und  sein  Autor  Volker  Ludwig  (Linie  1). Weniger kabarettistisch, poetischer ist das Berliner Freie Theater Rote Grütze, vor allem mit den Theaterstücken zur sexuellen Aufklärung (Was heißt hier Liebe und Darüber spricht man nicht). Autoren wie Lutz Hübner (Das Herz eines Boxers), Igor Bauersima (norway today) und Kristo Sagor (Dreier ohne Simone) nehmen heute diese Linie auf und führen sie weiter. Der Titel des Jahrbuchs der ASSITEJ Grimm und Grips spiegelt die Spannungsfelder des zeitgenössischen KuJ wider (www.assitej.org).

Mitte der 1980er Jahre bereits erschöpften sich die Funktionalisierungen des Kindes zum ausschließlich zu erziehenden und zu belehrenden Objekt und des Theaters als Mittel zum Zweck. Das KuJ entdeckt das Theater als Kunst und emanzipiert sich vom Primat des Pädagogischen. Die ästhetische Bewertung einer phantasievollen theatralen Vielfalt und attraktiven Vorführung gerät mehr in den Blick. ,Kunst für Kinder‘ wird der Gesellschaft als Pflicht abverlangt und als deren Recht eingefordert. „Dieses Kindertheater stellt Probleme, Träume, Ängste und Sehnsüchte dar und nimmt sie ernst. Es ist eine Anschauung des Lebens, Spiegel der Zeit und Anstoß zu einem spielerischen Umgang mit der Wirklichkeit. Dieses Kindertheater ist ein Theater der Freundlichkeit, der Wärme, der Lust, der Aufmüpfigkeit und des Zorns, ein Theater der Gefühle. Es soll Mut machen zum Leben, Toleranz vorführen, Weltaneignung ermöglichen und durch künstlerische Haltungen Stellungnahmen provozieren.“ (Schneider 22)

Die Besonderheiten und Herausforderungen eines Theaters für Kinder und Jugendliche werden neu bestimmt. Die Unmittelbarkeit des Verhältnisses zwischen Schauspieler und den zuschauenden Kindern und Heranwachsenden verlangt eine andere Aufmerksamkeit der Darstellungskunst für sein unmittelbarer reagierendes Publikum. Die Ausprägungen und sich verändernden Wahrnehmungsstrategien einer von visuellen Medien umfassend beeinflussten Lebensumwelt der Zuschauenden fordern eine sorgfältigere Ausformulierung theatraler Wirkungsweisen. Das KuJ entwickelt das Erzähltheater zur Blüte und – beeinflusst von Märchentraditionen und der Rolle des Erzählers – eine sich direkt an die Zuschauenden wendende, mit sparsamen theatralen Mitteln umgehende Theaterform. Märchenstoffe und Mythen, poetische und sagenhafte Geschichten prägen das Theater für Jüngere. Bearbeitungen der großen Stoffe der Theaterliteratur erforschen – für Kinder zwar einfachere, aber nicht vereinfachende – Sichtweisen auf klassische Werke der Erwachsenenliteratur und lassen diese neu lebendig werden. Theaterstücke wie Der Kleine Prinz von Dänemark von Torsten Letser, Medeas Kinder von Per Lysander und  Suzanne  Osten  und  Metamorphosen  von Nils Gredeby heben zudem hervor, dass der Spielplan der bundesdeutschen KuJ ein internationaler ist und Stücke und Stückbearbeitungen aus den Niederlanden und aus den skandinavischen Ländern das deutsche KuJ nachhaltig beeindrucken.

Nicht mehr nur die Vorstellungen der Erwachsenen und deren literarisch tradierte Motive und Erzählungen, sondern die Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen selbst wird – weniger bewertend, mehr beschreibend – Gegenstand künstlerischer Betrachtung. Das Theater begibt sich zu den Orten der Kinder selbst, ,Schulhofgeschichten‘ erzählen europäisches Theater in einem umfangreichen Austauschprogramm, Theater findet im Schulbus statt und in der Turnhalle, Theater  im  Klassenzimmer‘  entwickelt  sich  zur spannungsreichen Form (z. B. Mirad, ein Junge aus Bosnien von Ad de Bont). Die große Kunst des Figurentheaters und des Puppentheaters, Weiterentwicklungen aus der reichen Theaterkultur der ehemaligen DDR – dies alles ist Herausforderung für die künstlerisch handwerkliche Weiterentwicklung des KuJ.

Das zeitgenössische Schauspiel und das KuJ nähern sich heute einander an. KuJ werden zu Jungen Theatern und die Grenzen zwischen dem Theater für Kinder, für Jugendliche und dem der Erwachsenen durchlässiger. ,Cross over‘, das Interesse der Theater an den Betrachtungen der anderen Künste, an Musiktheater, an der Bildenden Kunst, das Tanztheater, die Einbeziehung des Figurentheaters und des Erzähltheaters sind lebendiger Ausdruck einer Entwicklung der Darstellenden Kunst, die unnötige Spezialisierungen überwindet und als „Rohstoff von Öffentlichkeit“ (Haß 23) sich zu einem Ort der Versammlung, des Austausches von Gedanken und Haltungen und der gemeinsamen Entdeckungen der Generationen weiterentwickeln wird.

Fo, Dario: Wer hat eigentlich das Theater erfunden? In: Stiekel, Bettina (Hg.): Kinder fragen, Nobelpreisträger antworten. München 2002; Haß, Ulrike: Zum Verhältnis von Theater, Pädagogik und Theaterpädagogik. In: Richard,  Jörg (Hg.): Theaterpädagogik und Dramaturgie im Kinder- und Jugendtheater. Frankfurt a. M. 1990; Hentschel, Ingrid: Kindertheater. Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität. Frankfurt a. M. 1988; Internationale Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche. Sektion Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Grimm & Grips. Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater. Frankfurt a. M. 1987/88 ff.; Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Reclams Kindertheaterführer. Stuttgart 1994; Kirschner, Jürgen (Hg.): Stücke und Literatur zum Kinder- und Jugendtheater. Frankfurt a. M. 1998; Richard, Jörg (Hg.): Theaterpädagogik und Dramaturgie im Kinder- und Jugendtheater. Frankfurt a. M. 1990; Ders. (Hg.): Jugend-Theater. Frankfurt a. M. 1996; Schneider, Wolfgang (Hg.): Kindertheater nach 1968. Neorealistische Entwicklungen in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Köln 1984; Ders. (Hg.): Kinder- und Jugendtheater in der DDR. Frankfurt a. M. 1990; Ders.: Zur Geschichte des Kindertheaters in Deutschland. In: Reclams Kindertheaterführer. Stuttgart 1994.

THOMAS LANG

Jugendclubs  an  Theatern  –  Märchen  –  Vor- und Nachbereitung  – Zielgruppe