Körpersprache

Was das Grimmsche Wörterbuch unter dem Stichwort körperlich nur andeutet (,körperliche vorzüge, fehler, gebrechen, gesundheit, fertigkeiten, bewegung, ausbildung‘), das Wahrig-Wörterbuch von 1968 noch immer nicht kennt und der fachwissenschaftliche Diskurs selbst heute kaum erwähnt, präsentiert das Internet inzwischen mit fast 35 000 Eintragungen: Die Vielfalt an Informationen, Ratschlägen, Workshops, Buchtipps und Experten (u. a. Molcho, Birkenbihl) zum Stichwort K deuten auf eine schillernde Praxis und einen explosionsartigen Gebrauch des Begriffs innerhalb weniger Jahre.

Als Phänomen ist die K allerdings schon in der antiken  Rhetorik reflektiert worden,  in  der  u. a. Anweisungen zum Gesichts- und Körperausdruck, zum  Gebrauch von Stimme und Gesten  gegeben werden. Seit der Antike ist auf die Analogie zwischen Körper und Seele hingewiesen, in der modernen Ausdruckspsychologie das Gesten- und Gebärdenspiel schließlich umfassend untersucht worden. Noch im 18. h. sucht die Physiognomik von der äußeren Gestalt auf den Charakter zu schließen, während die Pathognomik allein dem Mienenund Gebärdenspiel zugesteht, auf die Gefühls- und Seelenlage des Menschen zu verweisen. Inzwischen ist davon auszugehen, dass der mimische Ausdruck der Grundemotionen des Menschen (Glück, Trauer, Angst, Ärger, Ekel, Interesse, Überraschung) samt seiner Interpretation in allen Kulturen gleich ist (wobei die soziale Anwendung beträchtliche Unterschiede aufweist), der gestische Ausdruck samt seiner Interpretation hingegen im Verlauf der Sozialisation – also kulturspezifisch – erworben wird (vgl. Ekman u. a. 1974).

K äußert sich im kinetischen, haptischen und räumlichen Verhalten; ihre Zeichen lassen sich deuten auf der Subjektebene (sagen z. B. etwas über Verfassung, Gefühle), Objektebene (sagen z. B. etwas über die Einstellung zu einer Sache) und Interaktionsebene (beeinflussen die Kommunikation z. B. durch Erwartungshaltungen). Im Wesentlichen ist K in drei Kategorien unterteilbar: Embleme (sprachersetzende, bedeutungsbekannte Zeichen; sprachlich übersetzbar), Illustratoren (sprachbegleitende, meist ikonisch kodierte Zeichen; schwer übersetzbar) oder Adaptoren (erlernte Verhaltensmuster, deren Bedeutung ikonischer Natur ist oder im Akt des Tuns aufgeht; praktisch nicht übersetzbare Zeichen) (vgl. Ekman u. a. 1981). Obwohl sie im Kommunikationsprozess mit ca. 70 % eine wesentliche und mitunter dominante Rolle spielen, bleibt das Senden und Empfangen körpersprachlicher Signale meist unbewusst; ihre neuronale und hormonelle Wirkungsebene ist nicht nur schneller als die Wortsprache, sondern auch eindringlicher. Selbst als signifikante Bewegung lässt sich der Ausdruck durch die Absicht nicht allein erklären; was zum Ausdruck kommt, geht in der zugrunde liegenden Sprachbedeutung nicht vollständig auf, bedarf häufig der Erklärung, mitunter gar der wortsprachlichen Korrektur. Auf der Ebene des Körpers meist intuitiv produziert, auf der Ebene des Empfängers in der Regel unbewusst gedeutet, rekurriert K auf Erinnerungsspuren, auf einverleibtem sozialen Wissen sowie auf kulturellen Stereotypen.

Plessner, Merleau-Ponty oder Buytendijk haben den wesentlich durch den Körper und seine Bewegung vermittelten Austauschprozess des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt beschrieben, die paradoxe Natur von Körper-Haben und Leib-Sein herausgearbeitet; diese Erkenntnisse sind um das Konzept der Mimesis (vgl. Wulf u. a.) erweitert worden. Mit dem Begriff embodiment (vgl. Csordas) wird die poststrukturalistische Sicht des Körpers als Repräsentant gesellschaftlicher Verhältnisse (vgl. z. B. Foucault) mit der phänomenologischen Perspektive des In-der-Welt-Seins verbunden. Gegenüber der semiotischen Behandlung des Körpers beachtet eine performative das Wechselverhältnis zwischen Einschreibung und Konstruktion und beschreibt Identität als eine durch leibliche Zeichen performativ hergestellte Konstruktion (vgl. Butler). Mit der Entdeckung und Beschreibung der männlichen und weiblichen K (vgl. Wex) entwickelte sich zugleich die Vorstellung, dass die K nicht einfach nur gegeben, sondern beeinflussbar und veränderbar ist – gegenüber der repräsentativen Funktion betont die Idee Körper entwerfen (vgl. Flusser) inzwischen insbesondere die expressive Dimension der K.

In die Zeichentheorie ist die K unter dem Begriff ,nonverbale Kommunikation‘ eingegangen. Neben der syntaktischen (die Logik betreffend) und semantischen (die Bedeutung betreffend) unterscheidet die Semiose die pragmatische Ebene der Kommunikation; hier werden hörbare, sehbare, riechbare oder spürbare Einflussfaktoren wie Körperbewegung, Körperhaltung, Blickverhalten, Gesten, Gebärden, Körperausdruck, Gesichtsausdruck, Mimik, Sprechweise, Stimme, Stimmungssignale oder Erscheinungsbild berücksichtigt und Phänomene wie Intersubjektivität, Erfahrung, Kontext, Rückkopplung, Partikularität, Sprachgestus und das faktische Handeln untersucht. Als Teil der analogen Kommunikation regelt und beeinflusst (ersetzt oder unterwandert mitunter) die K die auf Inhalte zielende digitale Kommunikation (vgl. Watzlawik u. a.). Auch in der Semiotik des Theaters spielen körpersprachliche Zeichen eine wichtige Rolle: Der Schauspieler erzeugt (1.) durch sein Handeln visuell wahrnehmbare kinesische Zeichen (mimische, gestische und proxemische, d.h. die Raumposition betreffend) und akustische Zeichen (linguistische, paralinguistische und Geräusche) und (2.) durch seine äußere Erscheinung entsprechende Zeichen auf der Ebene der Maske (Gesicht und Gestalt), der Frisur und des Kostüms (vgl. Fischer-Lichte). Bis auf die linguistischen Zeichen haben alle mit der Signalwirkung des Körpers, im weitesten Sinne also mit der K zu tun: das Lächeln, Zwinkern, die Faust, der angespannte Körper, die trippelnden Schritte, der distanzhaltende Körper, die Tonlage, Pause, Satzmelodie, das geschminkte Gesicht, der Buckel, die Punkfrisur, der Anzug, die Nacktheit usw. – ohne K (die auch wirkt, wenn der Schauspieler nichts tut) gibt es kein Theater. Ganz im Gegenteil: Das Theater spielt mit den körpersprachlichen Zeichen der Kultur, setzt sie in den theatralen Rahmen, denotiert ihre primäre Funktion und zeigt sie (u. U. verfremdet, verdichtet, verschoben) buchstäblich noch einmal.

In der ThP findet die K insbesondere im Rollenspiel, Psychodrama, Improvisations- und Statuentheater und szenischen Spiel Beachtung. Vor dem Hintergrund von Stanislawskis Praxis der Einfühlung oder Brechts Arbeit am Gestus wird die Beziehung zwischen (sprachlicher) Intension und Körperverhalten, die Beziehung zwischen Haltung und Handlung reflektiert (vgl. Steinweg). Die Arbeit an Haltungen (vgl. Scheller) erkundet das Zusammenspiel innerer Vorstellungen, Interessen, Einstellungen und Gefühlen mit äußerem sprachlichen und körperlichen Ausdrucksund Handlungsmodalitäten und befragt die soziale Wirkung von K. Nicht nur evozieren Vorstellungen oder Gefühle entsprechende Körperhaltungen, sondern auch umgekehrt erzeugen bestimmte Körperhaltungen oder -bewegungen entsprechende Gefühle und Vorstellungen (beim Produzenten, wie auch beim Zuschauer). Mit dem Fokus auf die K wird das gesellschaftspolitische Anliegen der ThP (vgl. Boal) gestärkt und Theater insgesamt als kommunikativer Akt verstanden (vgl. Ritter).

Der Blickwechsel, der mit dem cultural turn seit Mitte des letzten Jhs. vorgeschlagen wird, bestimmt inzwischen auch die thp Praxis. Gegenüber der semiotischen Einstellung, die die K in der Art eines lesbaren Textes behandelt, sucht die pragmatische Einstellung die Wirkung zu erforschen. K wird weniger unter dem Aspekt des Ausdrucks (als entzifferbare Zeichen eines verborgenen Charakters) verstanden als unter dem Aspekt des Eindrucks gesehen – etwas, was in Kommunikationssituationen also auf der basalsten Ebene der Wahrnehmung wirkt und die leibliche Anwesenheit von Sender und Empfänger (auf diffuse und gerade nicht gerichtete Weise) zuallererst überhaupt spürbar macht. K wird hier nicht als identifizierbares Zeichen, sondern als Erzeugende von Atmosphären (vgl. Böhme) verstanden. Mit der Erforschung des performativen Potenzials wird nicht nur die ,Materialität‘ des Körpers, sondern auch seine ,kommunikative‘ Performanz ins Spiel gebracht, zuletzt werden auch die Räume im Dazwischen (vgl. Seitz) ausgelotet. Der Fokus verlagert sich von der Körper-Sprache zur Körper-Inszenierung.

Aristoteles: Physiognomonica. Übersetzt v. Sabine Voigt. Berlin 1999; Birkenbihl, Vera F.: Signale des Körpers. München 1991; Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1979; Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001; Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M. 1991; Csordas, Thomas J. (Hg.): Embodiment and Experience. Cambridge 1994; Ekman, Paul/Friesen, Wallace V./Ellsworth, Phoebe: Gesichtssprache. Wien u. a. 1974; Ders./Friesen, Wallace V.: The Repertoire of Non-verbal Behavior. In: Kendon, Adam (Hg.): Nonverbal Communication, Interaction, and Gesture. The Hague 1981; Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, Bd. 1: Das System der theatralen Zeichen. Tübingen 1994; Flusser, Vilém: Vom Subjekt zum Projekt. Bensheim 1994; Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M. 1977; Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. München 1991; Molcho, Samy: Körpersprache. München 1986; Ders.: Die Körpersprache der Kinder. München 1999; Ritter, Hans Martin: Das gestische Prinzip bei Bertolt Brecht. Köln 1986; Scheller, Ingo: Arbeit an Haltungen, oder: Über den Versuch, den Kopf wieder auf die Füße zu stellen, In: Scholz, Rudi/Schubert, Peter (Hg.): Körpererfahrung. Die Wiederentdeckung des Körpers. Reinbek 1982; Seitz, Hanne: Räume im Dazwischen. Bewegung, Spiel und Inszenierung im Kontext ästhetischer Theorie und Praxis. Bonn 1996; Steinweg, Reiner: Brechts Modell der Lehrstücke. Frankfurt a. M. 1976; Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch. Gütersloh, Berlin 1968; Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation. Bern u.a. 1969; Wex, Marianne: ,Weibliche‘ und ,männliche‘ Körpersprache als Folge patriarchaler Machtverhältnisse. Hamburg 1979; Wulf, Christoph/Gebauer, Gunter: Mimesis. Reinbek  1992.

HANNE SEITZ

Authentizität – Bewegung – Bewegungserziehung – Feministische Theaterpädagogik – Improvisation – Körper- und Bewegungsstudium – Konstruktivismus