Kreatives Schreiben
KS ist eine Form des Schreibens, die vor allem durch ihre assoziativen Grundtechniken wie brainstorming, clustering, freewriting und mind-mapping geprägt ist und sich u. a. deswegen für die Förderung von Leistungen eignet, die – wie das bei der ThP der Fall ist – im Schnittpunkt künstlerisch-ästhetischer und wissenschaftlicher Arbeit erbracht werden (vgl. Böttcher). Die Funktion des KS für diesen Arbeitsschnittpunkt besteht im Aufschließen neuen Materials, um Annäherung daran zu ermöglichen, aber auch im Fremdmachen von bereits bekanntem Material, um produktiv-kritischen Abstand zu erzeugen, vor einem erneuten Zugriff darauf. KS unterstützt den spielerischen Umgang mit Ideen und Material, indem es Verknüpfungen schaffen hilft zwischen dem Diskurs des jeweiligen Gegenstandes und anderen Diskursen. Dieses verschriftlichte → Spiel befördert produktive Arbeitshaltung, Leistungsmotivation und positives Erleben der eigenen Tätigkeit – Aspekte, die im Zusammenspiel zu einem Grundgefühl entfesselter Kreativität beitragen können, das Mihaly Czikszentmihalyi als flow bezeichnet. Das KS, oft in Kombination mit Elementen der Theaterarbeit, hat u. a. wegen des o. g. Wirkungspotenzials seit vielen Jahren einen festen Platz im sog. Kreativitätstraining gefunden.
Die wohl bekannteste Grundtechnik des KS (zumindest im deutschsprachigen Raum) ist das clustering, das Gabriele Rico auf den Erkenntnissen der Hirnforschung aufbauend als eine Möglichkeit entwickelt hat, begriffliches und bildliches Denken fruchtbringend miteinander zu verknüpfen.
Der assoziative Charakter der Grundtechniken des KS stellt sich vor allem durch die extrem begrenzte Arbeitszeit und die Forderung nach stetigem Schreibfluss ein. Das Ziel für alle eingangs genannten Techniken besteht im Produzieren von Textquantität – dem Aufspüren, Entwickeln und Vernetzen von Ideen – und nicht im Herstellen von Textqualität im Sinne wissenschaftlicher und/oder künstlerischer Präsentation von Ideen.
Diese Aufmerksamkeitsverschiebung von der Ideenpräsentation zum eigentlichen Hervorbringen von Ideen entlastet die SchreiberInnen von einem oft als blockierend erlebten Druck sprachlich-formaler Anforderungen (z. B. die Einhaltung von Textsortenmerkmalen, sprachlichen Konventionen des jeweiligen Fachdiskurses bzw. von stilistischen und grammatisch-orthografischen Regeln). Befreit vom ,inneren Zensor‘, entstehen mit Hilfe dieser Techniken in nur wenigen Minuten Einzelwortlisten (brainstorming), so genannte Wort-Igel (clustering), lose Textstrukturen (freewriting) bzw. Ideennetze (mind-mapping).
Abgesehen von der Nützlichkeit der o. g. Grundtechniken des KS für das Verfassen von Spielvorlagen, können diese Techniken auf unterschiedliche Weise in den Prozess von Theaterarbeit integriert werden: vorbereitend (z. B. Festhalten von Befindlichkeit), prozessbegleitend (z. B. Entwickeln von Spielideen) oder reflektierend (z. B. Zusammenfassen von Szenarien, Entwickeln von Alternativen). Hierbei kommt es darauf an, den Arbeitscharakter des Geschriebenen klar zu vereinbaren, d. h. zu klären, dass zur Selbstverständigung bzw. zum Austausch im Team über die anliegende Theaterarbeit geschrieben wird. KS in diesem Kontext ist Mittel zum Zweck und nicht eigentliches Ziel im Sinne des Erstellens publizierbarer Texte.
Werden die Grundtechniken des KS bewusst im Verbund praktiziert, erhöht sich nicht nur deren individuelles Assoziationspotenzial, sondern schafft außerdem für die Schreibenden die Möglichkeit, sich ihren Einfällen binnen kürzester Zeit sowohl auf der Einzelwortebene als auch auf der Ebene des Wortverbundes bzw. auf der Satzebene zu nähern. Hinzu kommt der kreativitätsfördernde Aspekt, dass verschiedene grafische Strukturen (Listen, Igel, Netze) die Schreibenden visuell stimulieren und somit eine zusätzliche Vorstellungsebene für den Umgang mit Ideen zur Verfügung steht. Wenn es zum Beispiel während der Probenarbeit darum geht, Spielideen zu entwickeln, zu reflektieren oder vorhandene Lösungsansätze mit Alternativen zu kontrastieren, dann kann dies mit Hilfe unterschiedlicher Schreibtechniken geschehen, um der → Gruppe auf diese Weise verschiedene Zugriffe auf das vorhandene Material zu ermöglichen. Dieses Herangehen an ein und denselben Gegenstand über unterschiedliche Schreibtechniken wird außerdem der Hypothese der empirischen Schreibforschung gerecht, dass ein direkter Bezug zwischen Lern-/Arbeitsstil und der Art und Weise des Schreibhandelns besteht.
Die folgenden Methoden des KS – Imitieren, Adaptieren und Improvisieren – unterstützen das bewusste Konstruieren literarischer und nicht-literarischer Texte (vgl. Bräuer) und können Theaterarbeit und KS sinnvoll ergänzen. Einige Anregungen: In Vorbereitung auf eine Stückproduktion können Dialogmuster aus der Spielvorlage imitiert werden, indem die beteiligten DarstellerInnen, dem entsprechenden Textmuster folgend, Dialoge aus ihrem Alltagsleben entwerfen und auf diese Weise ein Gefühl für Sprache und Handlungsstruktur des Stücks entwickeln. Um dieses ,Gefühl für die Szene‘ durch Kontrastierung weiter zu konkretisieren, könnte das vorhandene Spielmuster auf andere Rollen oder Umstände adaptiert werden (z. B. die Redemuster-Verwendung eines Pfarrers für eine Punker-Szene). Ist auf diese Weise Souveränität im Umgang mit einem sprachlichen Muster erreicht worden, gelingt es zumeist leichter, auf veränderte Spielsituationen (z. B. bei der Erarbeitung eines Alternativentwurfs in der Probenarbeit) schnell durch Improvisation zu reagieren. Auch dieses Improvisieren kann durch Schreibarbeit vorbereitet werden, indem (z. B. begleitend zur Probenarbeit) regelmäßig von den SpielerInnen Alternativentwürfe zu bestehenden szenischen Arrangements skizziert werden.
Die aufgeführten Beispiele verdeutlichen eine natürliche Nähe zwischen Theaterarbeit und KS: (1.) Sowohl der spielerische (vgl. Imitieren, Adaptieren, Improvisieren) als auch der grafische Charakter des KS (vgl. brainstorming, clustering, mind-mapping) erinnern an das Symbolische der Körpergesten im kindlichen Spiel (vgl. Piaget; Wygotski), die auch zu einem wesentlichen Kommunikationsträger zwischen (Theater-) Spielenden werden. (2.) Das Experimentelle, Vorläufige, Sich-Vergewissernde des KS (vgl. brainstorming, freewriting) ist mit dem inneren Monolog beim Kleinkind vergleichbar, durch den es eigenes Handeln antizipiert, durchspielt – ähnlich wie im ,inneren Monolog‘ der individuellen Erarbeitung einer Szene.
Aufgrund dieser natürlichen Affinität kann auch die Theaterarbeit das KS produktiv ergänzen: Textentwürfe und Schreibwerkstätten werden zu Spielflächen, auf denen die Schreibenden die Tragfähigkeit von Ideen und deren textlicher Darstellung erproben. Schreiben wird zum Experimentier-Medium für Spielideen und Rollenvorstellungen. Gerd Koch nennt diesen Vorgang → Theatralisierung von Lehr-Lernprozessen – Erkenntnisprozesse, wie sie jeder Textarbeit immanent sein sollte.
Textkritik lässt sich u. a. auf folgende Weise inszenieren: Zwei Spieler (A und B), MitarbeiterInnen einer Redaktion, nehmen vor den Augen des außerhalb der Szene befindlichen Autors Stellung zu dessen Textentwurf. A erklärt, warum der Text angenommen werden sollte, B stellt die Gründe für dessen Ablehnung dar. Beide einigen sich schließlich darauf, dem Autor konkrete Überarbeitungsvorschläge als Voraussetzung für eine Publikation zu unterbreiten (vgl. Bräuer).
Beim Umgang mit literarischen Texten (z. B. in Schule oder Studium) ergänzen sich KS und Theaterarbeit auf besonders günstige Weise. Die produktions-orientierte Deutschdidaktik hat dazu seit den 1980er Jahren viele Ideen entwickelt (vgl. Belgrad u. a.). Die Analyse- und Interpretationsarbeit der SchülerInnen im Umgang mit literarischen Texten kann durch das Imitieren, Adaptieren oder Improvisieren von Schlüsselsequenzen zu neuen Einsichten verhelfen. Beim Durchspielen prägen sich Handlungsabfolgen ein, werden Handlungsmotive nachvollziehbar, und das Erleben der Figurencharaktere initiiert die emotionale Auseinandersetzung mit den Rollen. Diese veränderte individuelle Bedeutsamkeit der Auseinandersetzung mit einem Text (im Vergleich zur traditionellen Leserezeption) regt nicht zuletzt das eigene Verfassen von Texten an, die u. U. auch als Spielvorlagen für die Bühne genutzt werden können.
James Moffett, ein US-amerikanischer Pädagoge, hat schon in den 1960er Jahren vorgeschlagen, das Zusammenspiel von Theaterarbeit und KS als gestaltendes Prinzip bei der Entwicklung von Curricula zu nutzen, indem die theatralen Aspekte von Unterrichtsthemen und Textsorten konsequent als Lehr- und Lernfelder genutzt werden.
Belgrad, Jürgen/Melenk, Hartmut (Hg.): Literarisches Verstehen, literarisches Schreiben. Positionen und Modelle zur Literaturdidaktik. Baltmannsweiler 1996; Böttcher, Ingrid: Kreatives Schreiben. Grundlagen und Methoden. Berlin 2000; Bräuer, Gerd: Schreibend lernen. Grundlagen einer theoretischen und praktischen Schreibpädagogik. Innsbruck 1998; Czikszentmihalyi, Mihaly: The Psychology of Optimal Experience. New York 1990; Koch, Gerd u. a.: Theatralisierung von Lehr-Lernprozessen. Berlin, Milow 1995; Moffett, James: Teaching the Universe of Discourse. Portsmouth 1983; Piaget, Jean: Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde. Stuttgart 1969; Rico, Gabriele L.: Garantiert schreiben lernen. Reinbek 1984; Werder, L. v.: Lehrbuch des kreativen Schreibens. Berlin, Milow 20014; Werder, L. v.: Einführung in das Kreative Schreiben. Berlin, Milow 20033; Werder, L. v.: Brainwriting & Co. Berlin, Milow 2002; Wygotski, Lew S.: Denken und Sprechen. Frankfurt a. M. 1971.
GERD BRÄUER
→ Deutsch als Fremdsprache – Deutschunterricht – Hochschuldidaktik – Improvisation