Lebensbegleitendes Lernen
Verstehen traditionelle Vorstellungen das Lernen als eine Abfolge von begrenzten Lernphasen, so wird das LL als kontinuierlicher Prozess über die gesamte Spanne des Lebens angesehen. LL beruht auf der Fähigkeit und der Einsicht von Individuen, sich immer wieder lernend auf neue Anforderungen einzustellen. Durch Aufnahme, wertendes Interpretieren und Integrieren neuer Informationen und Eindrücke, werden menschliche Erkenntnisse und Handlungskompetenz entwickelt, verbessert und erweitert (vgl. Dohmen 1998). Offene Zugänge zur Bildung und zum Lernen, durchlässige Bildungswege und vernetzte Bildungsinstitutionen fördern und verstärken LL und berücksichtigen außerdem die individuell unterschiedlichen Lern- und Bildungserfahrungen.
Erste bildungspolitische Vorstellungen zum LL gehen auf die späten 1960er und 1970er Jahre zurück. In dem von der UNESCO initiierten Faure-Bericht (1972) zu internationalen Bildungsreformansätzen wird erstmalig der Leitbegriff lifelong learning gebraucht und synonym mit lifelong education und education permanente verwendet. Die kontinuierliche Entwicklung menschlicher Fähigkeiten und Kompetenzen hält dieser Bericht für erforderlich zur Bewältigung wachsender internationaler sozialer, ökologischer und gesellschaftlicher Probleme. Lifelong learning umfasst dabei vorund nachschulische Bildungsprozesse, das organisierte, das partiell organisierte und das unorganisierte Lernen, situatives Lernen und Lernen im alltäglichen Lebenszusammenhang.
In Deutschland wurde das Konzept des LL frühzeitig von dem Philosophen Georg Picht und dem Ökonomen Friedrich Edding (vgl. Picht u. a.) aufgenommen. In deren Konzeptionen resultiert LL aus der Notwendigkeit für die Individuen, sich einem beschleunigten Wandel in beruflichen Anforderungen und einer wachsenden Mobilität anzupassen. Erstmalig wird die Erwachsenenbildung als Teil des Bildungswesens berufs- und lebensbegleitend definiert. Diese Positionen haben Eingang in die offiziellen Dokumente der Bildungspolitik gefunden. So wird der ,ständigen Weiterbildung‘ im Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrats (51ff., 197ff.) eine große Bedeutung beigemessen.
Einen neuen Aufschwung hat die Debatte zum LL ab Mitte der 1990er Jahre durch die Veröffentlichung nahezu zeitgleicher Dokumente der EU und der OECD erhalten. 1995 erschien der Delor-Bericht, es folgten das Weißbuch der EU-Kommission Lehren und Lernen und der OECD-Bericht (1996) zum lebenslangen Lernen. Insbesondere die OECD entwickelt ein Modell des LL für das gesamte Bildungswesen, das auf einer Erneuerung der Schulen, einer Zunahme ,nonformaler Arrangements‘ und auf flexiblen Übergängen zwischen Lernen und Arbeiten aufbaut.
Infolge dieser vornehmlich europäischen Diskussion bestimmt auch in Deutschland das LL die Leitlinien einer modernen Bildungspolitik (vgl. Dohmen 1996). Als wesentlicher Beitrag zur Strukturierung des LL wird aus bildungspolitischer und berufspädagogischer Perspektive die stärkere Verzahnung und Neustrukturierung von Ausund Weiterbildung gesehen (vgl. Sauter). Die Erstausbildung hat das Ziel, Berufsfähigkeit herzustellen, indem sie berufliche Handlungskompetenz als Integration von fachlichen, sozialen und methodischen Kompetenzen vermittelt und einübt. Dagegen ist Weiterbildung der Förderung und Erhaltung von Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsfähigkeit verpflichtet. In Aus- und Weiterbildung umfasst das LL nicht nur Lernprozesse im Bereich des organisierten Lernens, sondern auch das informelle Lernen in und außerhalb der Erwerbsarbeit.
Um LL zu fördern, wird das informelle Lernen als besonders geeignet angesehen (vgl. Dohmen 1996, 29ff.; 1998, 18ff.). Darunter wird ein Lernen verstanden, das nicht planmäßig in Schulen und anderen Bildungsinstitutionen, sondern eher beiläufig, meist mit anderen Tätigkeiten verbunden, oft unbewusst und unausdrücklich am Arbeitsplatz, im Alltag und im Lebenszusammenhang stattfindet. Dieses tastende, nach Verständnis suchende Lernen scheint selbstbestimmter, situations- und anwendungsbezogener und stärker auf Lernbedürfnisse und Erfordernisse von Erwachsenen zugeschnitten zu sein.
Allerdings sind dem informellen Lernen insbesondere in beruflichen Zusammenhängen und im Arbeitsalltag deutliche Grenzen gesetzt, da es von der Existenz sinnlicher, kognitiver, emotionaler und sozialer Erfahrungsmöglichkeiten abhängig ist. Unternehmerische Geschäftsund Organisationsprozesse und ihre Orientierung an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien lassen häufig nicht genug Handlungsspielräume zum informellen Lernen und zur Weiterentwicklung.
Soll das informelle Lernen zur Grundlage des LL werden, muss es in Lernarrangements mit konstanten Lernbedingungen und definierten Zielen eingebunden werden. Ansonsten bleibt das Lernen zufällig und situativ, und Lernende vermögen nicht, übergeordnete Zusammenhänge zwischen einzelnen Problemen herzustellen. Im Zentrum der Diskussionen steht derzeit die Suche nach Lernkulturen, die der Bedeutung des informellen Lernens für das Erwachsenenlernen Rechnung tragen und gleichzeitig eine Verknüpfung mit formellem und intentionalem Lernen in und außerhalb der Arbeit ermöglichen. Lernkulturen müssen eine subjektive Reflexion über das eigene informelle Lernen fördern, um so Individuen zu befähigen, Lern- und Arbeitsprozesse bewusster, zielorientierter und selbstständiger zu organisieren und zu gestalten. Die Lehrenden schaffen als Berater und Mitgestalter von Lernprozessen Voraussetzungen, Denk- und Lernprozesse auszulösen. In zukunftsorientierten Lernkulturen geht es weder um Belehrung, noch um Selbstlernen, sondern um die möglichst hilfsbereite Aufbereitung von Lernumgebungen (vgl. Arnold 1999b, 12).
In der Suche nach Lernkulturen zur Förderung des LL trifft sich der berufspädagogische wiederum mit dem erwachsenenpädagogischen Diskurs einer ,lebensbegleitenden Bildung‘. Hier steht die ,bedürfnisorientierte Bildungsarbeit‘ im Mittelpunkt (vgl. Tietgens 1994), die das Streben des Subjektes nach Selbstübereinstimmung, biographischer Kontinuität und Integration unterstützt. Angesichts der Individualisierungsfolgen gesellschaftlicher Modernisierung ist der Einzelne mit der Aufgabe konfrontiert, Brüche in der Lebensführung und Differenzerfahrungen mit lebensgeschichtlichem Sinn zu verbinden. Insofern beinhaltet die lebensbegleitende Bildung eine Synthesearbeit zwischen Selbst und Weltbild, die eine Realitätsprüfung einschließt (vgl. Brödel 4). Die Vorraussetzung dafür ist das Erlernen von reflexiven Fähigkeiten des Einzelnen.
Die Vernetzung einzelner Bereiche des Bildungssystems mit dem Alltagsleben, die im Konzept des LL angestrebt wird, birgt nicht nur positive Effekte für die Einzelnen. Das Konzept basiert auch auf dem Motiv, kostengünstig Ressourcen der Lebenspraxis für gesellschaftliche und wirtschaftliche Erfordernisse nutzen zu können (Brödel 5). Die damit verbundene Entgrenzung von Arbeit und Erwerbsleben schafft die Möglichkeit, öffentliche Bildungs- und Lernangebote zugunsten selbstorganisierter Lernmöglichkeiten zu verringern und diese allein in die Verantwortung des Individuums zu legen.
Arnold, Rolf/Gieseke, Wiltrud (Hg.): Die Weiterbildungsgesellschaft, Bd. 1: Bildungstheoretische Grundlagen. Neuwied, Kriftel 1999a; Ders.: Vom autodidactic zum facilitative turn –Weiterbildung auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. In: Arnold/Gieseke, a.a.O., 1999b; Ders.: Lernkulturwandel. Begriffstheoretische Klärungen und erwachsenenpädagogische Illustrationen. In: DIE (Hg.): Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung. Thema: Neue Lernkulturen,. Nr. 44, Dezember 1999c; Brödel, Rainer (Hg.): Lebenslanges Lernen – lebensbegleitende Bildung. Neuwied, Kriftel 1998; Delor, Jacques: Lernen für morgen. Bildung im 21. Jahrhundert. In: UNESCO Kurier, 1996, H. 4; Deutscher Bildungsrat (Hg.): Empfehlungen der Bildungskommission – Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart 1970; Dohmen, Günther: Das lebenslange Lernen. Leitlinien moderner Bildungspolitik. Bonn 1996; Ders.: Zur Zukunft der Weiterbildung in Europa. Lebenslanges Lernen für Alle in veränderten Lernumwelten. Bonn 1998; Europäische Kommission: Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft – Europäisches Jahr des Lebensbegleitenden Lernens. Luxemburg 1995; Faure, Edgar u. a.: Learning to be. The world of Education Today and Tomorrow. Paris 1972; Geißler, Harald: Entgrenzung des Lernens zwischen linearer und reflexiver Modernisierung der Weiterbildung. In: Brödel, a.a.O.; Kade, Jochen/Seitter, Wolfgang: Bildung – Risiko – Genuss. Dimensionen und Ambivalenzen lebenslangen Lernens in der Moderne. In: Brödel, a.a.O.; Knoll, Joachim A. (Hg.): Lebenslanges Lernen. Erwachsenenbildung in Theorie und Praxis. Hamburg 1974; Ders.: ,Lebenslanges Lernen‘ und internationale Bildungspolitik. Zur Genese des Begriffs und dessen nationale Operationalisierungen. In: Brödel, a.a.O.; OECD (Hg.): Lifelong Learning for All. Meeting of the Education Committee at Ministerial Level. Paris 1996; OECD: Bildungspolitische Analyse. Bildung und Berufliche Qualifikationen. Paris, 2001; Picht, Georg/Edding, Friedrich: Leitlinien der Erwachsenenbildung. Braunschweig 1970; Sauter, Edgar: Aus- und Weiterbildung. Das neue Verhältnis alter Schwestern. Ein Beitrag zur Strukturierung des lebenslangen Lernens. In: Ausbilder-Handbuch 45, Erg.-Lfg., August 2001; Tietgens, Hans: Lebenslauforientierung als handlungsleitendes Konzept für die Erwachsenenbildung. In: Wiater, Werner (Hg.): Erwachsenenbildung und Lebenslauf. Mündigkeit als lebenslanger Prozess. München 1994; Ders.: Anthropologische und bildungstheoretische Implikationen lebenslangen Lernens. In: Arnold/ Gieseke, a.a.O.
AGNES DIETZEN
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