Leiblichkeit

Die Einführung eines Leibbegriffs geht auf die im 19. Jh. beginnende Auseinandersetzung über das dualistische Selbstverständnis (Unterscheidung von Geist und Körper bzw. Leib und Seele) des Menschen zurück. Zu Beginn des 20. Jhs. erlebte sie mit der entstehenden Philosophischen Anthropologie, der Phänomenologie und dem Pragmatismus einen ersten Höhepunkt. Wirkungsgeschichtlich bis heute bedeutsam ist die in der Philosophischen Anthropologie entwickelte Unterscheidung von ‚Leib‘ und ‚Körper‘, eine Unterscheidung, die in der deutschen Alltagssprache bereits angelegt ist: Während der Begriff des Körpers unterschiedliche Körper umfassen kann, den menschlichen ebenso wie physikalisch bestimmte Körper (z. B. Flugkörper), bezieht sich der Begriff des Leibes immer auf Lebendiges.

Die Theorie der L zielt darauf, die genuine Leiberfahrung der Menschen ernstzunehmen. Wenn sich auch die näheren Bestimmungen des Begriffs ‚Leib‘ in den verschiedenen philosophischen Ansätzen unterscheiden, so implizieren sie doch alle, dass unser leibliches und nicht das geistige Verhältnis zur Welt für unsere Weltwahrnehmung konstitutiv ist. Damit treffen sich Phänomenologie, Philosophische Anthropologie und Pragmatismus in dem Ziel, ein nicht bloß instrumentelles Verhältnis zum eigenen Körper zu denken und den cartesischen Dualismus zu überschreiten. Die ,Ordnung des Lebens‘ und die ,Ordnung der Vernunft‘ sollen dabei gerade nicht voneinander getrennt, sondern im Sinne einer „spezifischen Ordnung der Vernunft im Bereich des leiblichen Lebens“ (Waldenfels 22) verbunden werden.

Maurice Merleau-Ponty hat den Leib als „unsere Verankerung in der Welt“, „unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben“ bezeichnet (Merleau-Ponty 174ff.). Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Konzeption einer Doppeldeutigkeit des Leibes als Welthabe und Weltstiftung. Dadurch ist der Leib Ding unter Dingen und Träger des Ich. Hans Joas hat diese Konzeption als zwei Weisen von Körperlichkeit gedeutet, wodurch Merleau-Ponty versuche, das Verhältnis von Geist und Körper, Intentionalität und L von vornherein nichtdualistisch zu fassen. Hermann Schmitz versteht unter dem (eigenen) Leib des Menschen das, „was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann“ (Schmitz 12). Gernot Böhme bestimmt den Leib als „Natur, die wir selbst sind“ (Böhme 77).

Die Einführung eines Leibbegriffs steht bis heute unter dem Verdacht, einen Zugang zum Körper in seiner ‚Natürlichkeit‘ oder Nicht-Zeichenhaftigkeit zu beanspruchen. Doch haben die vielfältigen Diskussionen um den Körper seit Ende der 1970er Jahre deutlich gemacht, dass der Körper – und auch der Leib – nicht als Teil einer unveränderlichen Natur verstanden werden kann. Wurde mit der ,Wiederkehr des Körpers‘ (vgl. Kamper u. a.) zunächst auch die Frage einer  möglicherweise  neuen  Authentizität  aufgeworfen, so dominierte im Anschluss an die Arbeiten Foucaults seit den 1980er Jahren die Vorstellung vom Körper als Objekt und Einschreibefläche kultureller Muster, Normen und Disziplinierungen. Die im Gefolge dezidiert poststrukturalistischer Ansätze einsetzende Debatte um Konstruktion und Dekonstruktion des Körpers verabschiedete endgültig die Möglichkeit authentischer Erfahrungen. Sie brachte aber auch die Lebendigkeit des Körpers hinter einer weitgehend als Text gedachten und damit tendenziell körperlosen Welt zum Verschwinden (linguistic turn). Übrig blieb ein Körper als Effekt von diskursiv verfassten Zeichenpraktiken, der im Wesentlichen als passives Konstrukt gedacht wurde. Damit stehen sich in den Diskussionen um ‚den‘ Körper mittlerweile sehr polarisierte Auffassungen gegenüber.

Ein Brückenschlag zwischen radikaler Dekonstruktion und einem bloßen Beharren auf leiblich-körperlichen Erfahrungen kann durch die Rückbesinnung auf Ansätze, wie sie Helmuth Plessner, Merleau-Ponty und Hermann Schmitz auf verschiedene Weise ausgearbeitet haben, ermöglicht werden. Diese Autoren haben die Bedeutung der menschlichen L für die Orientierung in der Welt herausgestellt, ohne die Historizität von Erfahrungen leugnen zu müssen. Das dadurch eröffnete Spannungsfeld lässt sich mit Plessner auch als Dialektik von Leib-Sein und Körper-Haben bestimmen.

In soziologischer Richtung hat Pierre Bourdieu mit seinem Habitus-Konzept den Körper zur Grundlage der Welterschließung in Form von Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen gemacht. Er zeigt, inwiefern das Subjekt gesellschaftliche Strukturen einverleibt und welche Bedingungen dafür erfüllt sein müssen. Die Individuen entwickeln demnach eine subjektive Entsprechung zu diesen Strukturen, indem sie unter anderem soziale Fähigkeiten, praktisches Wissen sowie Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster im Habitus amalgamieren und diesen inkorporieren. So verlaufen im Körper immer Prozesse der Subjektivierung und der Objektivierung: Er handelt als Teil der sozialen Welt, die wiederum in ihm körperlich geworden ist. Daraus ergibt sich schließlich auch die Hervorhebung performativer Vollzüge für das Gelingen kultureller Kommunikation, da hier Bedeutung (Referenz) in Abhängigkeit von Handlungen entsteht. Damit tritt die ,Kreativität des Handelns‘ in den Vordergrund.

Nur mit Blick auf das Wechselverhältnis zwischen der Leibgebundenheit jedweder Handlung auf der einen und der historischen, sozialen und geschlechterspezifischen Konstruktion des Körpers auf der anderen Seite ist die fundamentale Bedeutung, die dem Körper als Grund jeglicher Kultur zukommt, angemessen zu erfassen. Die doppelte Verfasstheit des menschlichen Körpers lässt sich am Modell des Theaters beispielhaft illustrieren: Die Körper einer Schauspielerin oder eines Tänzers produzieren und sind Zeichen. Sie sind Zeichen-Körper, semiotische Körper, sie tragen Bedeutung gewissermaßen wie ein Kleid. Zugleich aber sind sie Medium und L, Signifikanten, die niemals ganz im Zeichen aufgehen bzw. ihre Zeichenfunktion immer schon überschritten haben.

Der Körper als Leib ist nämlich niemals nur Produkt, sondern immer auch Akteur in kulturellen Prozessen. Verkleidung,  Inszenierung  oder  Bebilderung  des Körpers hat mit seiner spezifischen Leibhaftigkeit zu rechnen. Seine Eigendynamik hervorzuheben bedeutet, ihn tatsächlich als ,Körper von Gewicht‘ (vgl. Butler) zu verstehen, ein Gewicht, das sich in seiner leibgebundenen Gegenwärtigkeit der Vereinnahmung, Disziplinierung und Fragmentierung des Körpers durch die Macht der Diskurse entgegenstellt. So wäre eine Rede über den Körper zu ermöglichen, die nicht immer schon in den Dichotomien von Natürlichkeit und Künstlichkeit, Wirklichkeit und Inszenierung, Innen und Außen oder Männlichkeit und Weiblichkeit gefangen ist.

Böhme, Gernot: ,Leib: Die Natur, die wir selbst sind‘. In: Ders.: Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 1992; Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1993; Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin 1995; Fischer-Lichte, Erika: Auf dem Wege zu einer performativen Kultur. In: Paragrana, 1998, H. 7; Dies./Fleig, Anne (Hg.): Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen 2000; Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a. M. 1992; Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph  (Hg.):  Die  Wiederkehr  des  Körpers. Frankfur 200- 1982; Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a. M. 1992; Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966; Métraux, Alexandre/Waldenfels, Bernhard (Hg.): Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken. München 1986; Plessner, Helmuth: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Hg. v. Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker. Frankfurt a. M. 1981; Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Ostfildern vor Stuttgart 1998; Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt a. M. 2000.

ANNE FLEIG

Atmung – Bewegung – Körperund Bewegungsstudium – Körpersprache – Lernen und Theater – Sinnlichkeit