Mitspiel(theater)
Theatergeschichte lässt sich (auch) beschreiben als eine fortschreitende Domestizierung (Kultivierung) des Publikums. Wichtige Etappen dieser Entwicklung sind z. B. sehr klar ablesbar im Wirken des Intendanten Goethe am Weimarer Hoftheater und in der Vertreibung des Harlekins von der Bühne durch die Neuberin in Zusammenarbeit mit dem Literaturprofessor Gottsched (1737). Positiv wirkt sich diese Entwicklung aus als Literarisierung, Intensivierung, Stringenz der theatralen Mittel; verbunden damit ist die zunehmende Wichtigkeit zunächst des Autors, dann des Regisseurs, die mit der Entmachtung des Schauspielers einhergeht. Was dabei verloren geht, wurde z.B. von Rudolf Münz und wird gegenwärtig unter anderen von Gerda Baumbach ans Licht gebracht.
M lässt sich verstehen als eine Gegenbewegung, die die vornehme Langeweile aus den etablierten Häusern vertreiben will und das Publikum dazu animiert, sich über Sehen und Hören, über das Mitspiel im Kopf, das Mitdenken und Mitfühlen hinaus während der Aufführung zu artikulieren und die Aufführung direkt mitzugestalten, also Themen, Rollen, Inhalte, Entwicklungen ganz oder in Teilen zu bestimmen oder auch mitzuspielen (Rollen zu übernehmen). Die Entwicklung wurde zumeist von SchauspielerInnen und RegisseurInnen oder TheaterlehrerInnen getragen, kaum von Autoren. Eine Ausnahme ist Paul Pörtner mit seinen Mitspielstücken für Erwachsene (Scherenschnitt, 1963). M ist insbesondere nach der Studentenbewegung der 1968er Jahre im Kindertheater in der BRD diskutiert und entwickelt worden. Der Begriff ist heute vor allem noch im Kindertheater gebräuchlich. Dabei benennt er präzise nur eine Beteiligungsmöglichkeit; der umfassendere und klarere Begriff Animationstheater bezeichnet allgemein die Zielvorstellung aller Animationsformen (animieren: beleben, anregen, in Stimmung bringen – schon seit Ende des 16. Jh aus dem Französischen; Animationstheater: ein Begriff des 20. Jhs.).
In diesem Sinne gehören zum M-/Animationstheater eine Fülle unterschiedlicher Formen bzw. bedeutungsverwandter Begriffe: → Forumtheater (→ Boal); → Mini-Monodramen (Dörger/→ Nickel); → PlaybackTheatre (Fox); → Theatersport und andere Formen von Improvisationstheater mit lizenzgeschützten Markenbezeichnungen wie Gorilla-Theater (→ Johnstone); offene, zuschauerbezogene Improvisationstheaterformen; → Theatre in Education (TiE); animazione (ital.); animation (frz.).
Alle Formen brauchen eine Kontaktperson zwischen Bühne und Publikum, die die → Kommunikation zwischen SpielerInnen und Publikum initiiert, regelt und steuert; sie ist oft als SpielleiterIn, ModeratorIn erkennbar. Häufig übernimmt diese Funktion auch eine(r) der mitspielenden SchauspielerInnen. Bedingung für eine Beteiligung des Publikums ist die Improvisations- und Kontaktfähigkeit der SchauspielerInnen. Anders als beim Autorentheater übernehmen die SchauspielerInnen Erfindung und Gestaltung und müssen überdies in ihrer Rolle kommunikativ-helfend agieren können. Theatersport animiert das Publikum zum Zurufen von Stichwörtern, zum akustischen Bewerten der Szenen oder Werfen von Gegenständen (Rosen, Schwämme); es tendiert weniger zur Animation des Zuschauers als zur Befreiung des Schauspielers von Autor und Regisseur und hat dazu inzwischen eine Fülle von Formen entwickelt, vielfach von Musik (mit-)getragen. Typisch ist der (gespielte) Wettkampfgedanke, die Ermittlung eines Siegers; die Punktevergabe erfolgt meist durch die Zuschauer. Zusätzlich steuern sie isolierte Partikel bei, die sich mit nur einem Begriff, einem Wort formulieren lassen und sich auf Schauplätze, Gefühle, Genres, Berufe, Alter, Namen, manchmal auch auf Eigenschaften usw. beziehen; sie sind wenig mehr als ein Startpunkt für die Erfindungen der SpielerInnen. Das theatersportnahe, spielerorientierte Improvisationstheater geht also nicht weit in der → Animation (Einbeziehung) des Publikums, verzichtet zum Teil ganz auf eine Publikumsbeteiligung. Andere Entwicklungen des freien, zuschauerbezogenen Improvisationstheaters legen den Hauptakzent auf die Beteilung des Publikums und entwickeln dafür jeweils neue, den jeweiligen Zuschauern und der Intention der Veranstaltung entsprechende Formen (→ Theater der Versammlung, Universität Bremen; ImproVision, Fachhochschule Erfurt).
Das Kindertheater nutzt eine weite Spanne von der verbalen Animation des Kaspers (,Seid ihr alle da?‘) bis zum Mitspielen vieler oder aller Zuschauer. Frühe Versuche finden sich schon 1927 bei Natalia Saz im Moskauer Kindertheater, ,Spielstück‘ genannt.
Am weitesten in der Einbeziehung des Publikums (der SchülerInnen) gehen Formen des englischen Theatre in Education und die Mini-Monodramen. Je nach Lernziel haben sie unterschiedlichste Formen entwickelt.
Das → Unsichtbare Theater lässt sich als eine verdeckte Animationsform beschreiben; das Publikum wird zwar (manchmal sehr heftig) einbezogen, weiß aber nicht, dass es sich dabei um eine Inszenierung handelt.
Das Forumtheater beginnt mit einer Vorführszene zu einem Problem, zu einer spezifischen Situation des Publikums. Diese Vorführszene beruht meist auf intensiven Recherchen; sie wird bis zu einem Konfliktpunkt geführt und dann mit Hilfe des Publikums spielerisch und in Diskussionen verändert und entwickelt.
Beim Playback-Theatre stellen Geschichten, die von einzelnen ZuschauerInnen vor dem Publikum erzählt werden, den Spielstoff dar, der von den SpielerInnen (playback) improvisiert inszeniert wird (improvisierte Musik hat dabei wichtige Funktionen).
Formen der italienischen, französischen, österreichischen animazione, animation, Animation haben in der Regel spiel- und thp Charakter; sie schließen Theater von Kindern und Jugendlichen (oder anderen Bezugsgruppen) ein, aber kaum Vorführungen von professionellen SchauspielerInnen für diese Bezugsgruppen.
Mitspielformen (Animations-Bestandteile) finden sich immer auch in kultisch-liturgischen und religiösen → Ritualen (Gesang, Tanz, Gebet der Gemeinde, Responsorien: Wechselgesänge); das gilt vielfach auch für politische Versammlungen. Hier wird meist der Begriff der Agitation im Sinne eines politischen Einwirkens auf Bewusstsein und Stimmung von Volksmassen benutzt. In diesem Sinne haben vor allem die Agitprop-Theater nach dem 1. Weltkrieg bereits viele Formen von Publikums-Agitation/-Animation erprobt (Unsichtbares Theater, → Zeitungstheater usw.). Mit anderen Mitteln arbeiten die Massenspiele (ab 1920 in der Sowjetunion, bei den Massenfestspielen der Gewerkschaften in Leipzig, in → Labanschen Bewegungschören, um 1930 als Teil sozialdemokratischer Sportfeste, nach 1933 in den → Thingspielen des Nationalsozialismus); verwandt sind heutige religiöse und pseudoreligiöse Umzüge und Aufmärsche (→ Karneval). Noch spürbar wird in diesen Formen, wie Theater sich ursprünglich aus gemeinsamem Tun entwickelt hat (der Bockschor der griechischen Tragödie, der Komos der Komödie); deutlich wird aber auch, dass die Publikumsbeteiligung nicht eo ipso emanzipatorisch, aufklärend oder ästhetisch bildend ist, sondern weiterhin in der Verantwortung der konzipierenden und improvisierenden SpielerInnen bleibt.
Baumbach, Gerda: Seiltänzer und Betrüger? Parodie und kein Ende. Tübingen 1995; Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1986; Dörger, Dagmar: Mini- und Mono-Dramen. Wilhelmshaven 1985; Dies.: Animationstheater. Frankfurt a. M. 1993; Ebert, Jürgen/ Korn, Ulla/Nickel, Hans-Wolfgang (Hg.): Improvisation 1. Grundlagen und neuere Entwicklungen. In: LAG-Materialien Spiel und Theater, H. 31. Berlin 1993; Fox, Jonathan: Renaissance einer alten Tradition. Playback-Theater. Köln 1996; Johnstone, Keith: Theaterspiele. Spontaneität, Improvisation und Theatersport. Berlin 1998; Münz, Rudolf: Das andere Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro dell’arte der Lessingzeit. Berlin 1979.
DAGMAR DÖRGER
→ Animation – Arbeitertheater – Improvisation – Kinderund Jugendtheater – Lehrstück – Psychodrama – Szenische Interpretation – ZuschauSpieler