Musisch-Ästhetische Erziehung

Das Etymologische Wörterbuch des Deutschen (1989) definiert ,musisch‘ als „die Kunst betreffend, künstlerisch gebildet, empfänglich für Kunsteindrücke“ und verweist auf das griechische „musikós, zu den Musenkünsten gehörig“. Als Musenkunst galt griechisch die ,musiké‘, die Einheit von Dichtung, ihrem Vortrag im Gesang, Instrumentalmusik und Tanz. Dies sind die Künste der Musen, Göttinnen mit den Aufgaben, die Götter und vor allem Zeus und sein Schöpfungswerk zu preisen, die Menschen durch ihre Kunst zu trösten und einzelne mit der Fähigkeit zu Dichtung und Gesang zu begaben.

Die reformpädagogische Bewegung des frühen 20. Jhs. belebte den Begriff ,musisch‘ mit eigenem Pathos und schrieb der musischen Erziehung eine zentrale Funktion im Bildungsprozess zu. Im engeren Sinn betraf musische Erziehung die Musik- und Bewegungskünste, die  jetzt  definiert  wurden  als  ein  Ensemble  von instrumentalem und vokalem Musizieren, bei Bevorzugung des Chorlieds, von Laienspiel und Volkstanz. Musische Erziehung im weiteren Sinn umfasste im Verständnis der Kunsterziehungsbewegung seit 1900 die breite, den Einzelkünsten vorgelagerte Förderung künstlerischer bzw. protokünstlerischer Anlagen des Kindes. In den 1920er und 1930er Jahren sowie erneut nach dem 2. Weltkrieg belegen die programmatischen Schriften der musischen Erziehung, dass sie nicht nur eine Addition verschiedener auf die Künste bezogener Unterrichtsbereiche sein sollte, sondern die Gestaltung des Lebens als ein Einklang von Gesinnung, Haltung und Darstellung (vgl. Flitner). Musische Erziehung sollte den Grund legen und einen Übungsraum schaffen für eine Gesellschaft, in der Sittliches sich angemessen sinnlich darstellen würde. Ist hier das Musische ein wichtiger, aber nicht unbedingt notwendiger Spielraum zur Übung und Vorbereitung für die ernsteren Bereiche des Sittlichen und Religiösen, gewinnt es bei anderen Autoren hypertrophe Bedeutung. In seinem Zeichen sollten Kunst und Leben zu einer Ganzheit verschmelzen, zu einer Insel des Heils als Kontrapunkt zur Zerstreuung und Fragmentarisierung des modernen Lebens. Regressive, zum Teil völkisch orientierte und offen antidemokratische Tendenzen leisteten der Vereinnahmung der musischen Erziehung durch die nationalsozialistische Pädagogik Vorschub (vgl. Krieck).

Ansätze zur theoretischen Fundierung der musischen Erziehung nach 1945 (vgl. z. B. Haase) schreiben die rückwärtsgewandten, kulturkritischen und antimodernen  Traditionen fest.

Die einfluss-und folgenreichste Kritik am pathetischen Überschwang der musischen Erziehung formulierten Theodor W. Adorno (seit 1952) und Heinz-Klaus Metzger (seit 1956). Sie kritisierten die regressiven Züge eines Bildungskonzepts, das angesichts der Entfremdungsprozesse in der Moderne in ein ,Schutzgebiet von Irrationalität‘ (Adorno 63) und den Kult diffuser Ganzheitlichkeit flüchtet. Adorno legte dar, wie die musische Erziehung mit Gemeinschaftskult und Modernekritik in alle Fallen der nationalsozialistischen Ideologie getappt war. Zwar konzedierte er, die musische Erziehung sei ein Versuch, gegen Fragmentarisierung und Spezialisierung die ,Idee des Humanen‘ zu retten – aber der falsche (ebd. 111). Adorno und Metzger stellen auch die Feindlichkeit der Jugendmusikbewegung gegen die Musik der Moderne heraus, die sie mit den Nationalsozialisten teilt, und ihre generelle Kunstfeindlichkeit. Sie kritisieren das Kunstsurrogat, mit dem die musische Erziehung ihre Zöglinge abspeist (vgl. Metzger 46f.). Tatsächlich will die musische Erziehung Heilung des Lebens sein, nicht Einführung in die Welt der Kunst. Sie erfindet eigene ,musische‘ Spielarten zu pädagogischen Zwecken: Das Laienspiel distanziert sich schroff vom Berufstheater, die Musikpädagogik von der Musik-Avantgarde. Die Kunsterziehung, in den ersten Jahrzehnten des Jhs. noch in engem Kontakt zur Kunst ihrer Zeit, beschränkt sich später auf Techniken und Formensprache einer selbst konstruierten Volks- und Kindertümlichkeit zwischen Linolschnitt, Wachsmalkreiden und Blaudruck.

In den 1960er Jahren griffen jüngere Musik- und Kunstpädagogen die Kritik Adornos und Metzgers auf, und die musische Erziehung wurde nach und nach durch sachlichere, im Anspruch begrenzte Unterrichtskonzeptionen ersetzt (,Formaler Kunstunterricht‘, ,Ästhetische Erziehung‘, ,Visuelle Kommunikation‘, ,Auditive Wahrnehmungserziehung‘). Anfang der 1980er Jahre mit ihrer Renaissance reformpädagogischer Ideen wurde der Begriff ,musisch‘ in der Formulierung musisch-ästhetische Erziehung reaktiviert. So wird seitdem ein Lernbereich im vorfachlichen Unterricht der Primarstufe bezeichnet, der die verschiedenen Kunstfächer integriert. Konzeptionen einer solchen MäE wurden  in  Baden-Württemberg,  in  Bremen  (heute ,Lernbereich Ästhetik‘) und in Berlin ausgearbeitet, Musisch-ästhetische Erziehung auch an den Universitäten Potsdam und Bielefeld sind entsprechende Modelle entstanden.

In der Geschichte der musischen Erziehung zeichnen sich als Eigentümlichkeiten ab: die problematische Beziehung zwischen der Kunst und einer als kunstähnlich konzipierten pädagogischen Eigenwelt; die Neigung zur Verschmelzung von Kunst und Leben in Konzeptionen, die den ästhetischen Bereich zur Grundlage jeder Erziehung erklären, ihn damit einerseits überfordern, andererseits seine Konturen verwischen; der dem historischen Prozess der Ausdifferenzierung der Künste und Wissenschaften gegenläufige Versuch, alle Künste in einer Unterrichtskonzeption zusammenzuführen, deren ,Ganzheitlichkeit‘ über die Institution hinausstrahlen und ein Bollwerk gegen die Fragmentierung der Moderne sein sollte. Die neueren Konzeptionen der MäE sind der musischen Tradition insofern verpflichtet, als sie die künstlerischen Fächer in einem vorfachlichen Gesamtunterricht zusammenführen, der die leibsinnliche und emotionale Entwicklung des Kindes fördern soll. Die antiintellektuellen Affekte der musischen Erziehung teilen sie im Allgemeinen nicht. Sie knüpfen an ästhetische Theorien an, die das Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen des Menschen als ein eigenes, die Kognition fundierendes Erkenntnisvermögen verstehen, im 20. Jh. an Wahrnehmungstheorie, Anthropologie, Phänomenologie (vgl. z. B. Plessner 1923; Merleau-Ponty).

Die Beziehung zwischen Kunst und Pädagogik wird in der MäE unterschiedlich aufgefasst. Meike AissenCrewett (1987) plädiert für eine Aufhebung zwischen Kunst und Alltag und beschwört Beuys’ ,erweiterten Kunstbegriff‘; später zentriert sie ihre Konzeption um den Begriff ,ästhetisch-aisthetischer Wahrnehmung und Erkenntnis‘ (2000). Gottfried Bräuer betont die Orientierung an den leibsinnlichen Erfahrungen und am Alltag des Kindes und setzt das Werkverstehen als einen von vier Aspekten ästhetischer Elementarerziehung neben ,Organerfahrungen, Kunstmitteln und Gestaltungsprinzipien‘. Die von Matthies, Polzin und Schmitt entwickelte Konzeption (1987) ist alltagsorientiert, ohne die Besonderheit der einzelnen Künste, die „Wahrnehmung isolierter künstlerischer Werke [und Leistung]“ (vgl. Matthies u. a. 33f.) zu vernachlässigen. Gundel Mattenklott (1998) betont, dass die MäE „im schulischen Erziehungs- und Lernprozess die Kunst im umfassenden Wortsinn (alle Künste umfassend) als proprium des Menschen zur Geltung bringt“. Indem sie die Selbstzweckhaftigkeit der Kunstgebilde ins Spiel bringt, bürge MäE „für die Erfahrung der eigenen Selbstzweckhaftigkeit und der der anderen im symbolischen Spiegel der Kunstgebilde“ (vgl. Mattenklott 31).

Seit Mitte der 1980er Jahre sind viele Vorschläge für die Unterrichtspraxis entwickelt worden: isolierte und integrierte Sinnesübungen, musikalische und szenische Improvisationen, Gestaltungsaufgaben und Begegnungen mit Kunstwerken (u. a. im Museum). Bevorzugt werden offene und projektartige Unterrichtsformen. Die Lerninhalte sind nicht systematisiert, sie werden nach assoziativen und situativen Kriterien ausgewählt und sind flexibel gegenüber individuellen, regionalen und kulturellen Besonderheiten; sie riskieren dafür die Beliebigkeit. Mattenklott (1998) schlägt eine offene Ordnung der Inhalte vor: Sechs Gegenstandsbereiche: ,Der Leib und die Sinne – Elementare ästhetische Erfahrungen – Bauformen der Künste – Die Theaterkünste – Das Naturschöne – Zwischen Alltag und Kunst‘ entsprechen Kapiteln ästhetischer Theorien seit dem 18. Jh. (ebd. 39). Die Gegenstandsbereiche ordnen sich nicht zu einem entwicklungsorientierten Ansteigen des Anspruchsniveaus, sie sollen im Sinn eines spiraligen Curriculums wiederholt und vertieft werden.

In der Grundschule werden die MäE-Modelle nur zögernd umgesetzt. Sie stoßen einerseits auf den Widerstand von Kunst- und Musikpädagogen und ihren Fachverbänden, die Dilettantismus wittern, andererseits ist ihre Realisierung gerade wegen des mangelnden Sachverstandes vieler Lehrpersonen erschwert, die ohne entsprechende Ausbildung Kunst und Musik unterrichten. Die aktuellen Diskussionen über Kerncurricula lassen befürchten, dass der fundamentalen Bedeutung des ästhetischen Lernens nicht Rechnung getragen und seine notwendig offenen Unterrichtsstrukturen seinen Abbau beschleunigen könnten.

Die Konzeptionen der MäE führen die im 20. Jh. immer wieder diskutierten Überlegungen zum künstlerischen Vermögen aller Menschen, seiner Bildungsbedeutung und seiner Förderung durch Erziehung und Unterricht fort. Für drei grundsätzliche Fragen bieten sie variierende Lösungswege an: Wie ist die Beziehung zwischen ästhetischen Wahrnehmungen und Erfahrungen einerseits und andererseits der Kunst, über lange Zeiträume der Inbegriff des Ästhetischen, zu denken? Mit welchen Konsequenzen für ästhetische Erziehung und Unterricht? Wie ist die Balance zwischen den Zielen und Inhalten des musisch-ästhetischen Gesamtunterrichts und den fachlichen Ansprüchen der einzelnen Künste mit ihren je spezifisch anzueignenden Materialien, Mitteln, Verfahren, ihrer Geschichte, ihren Werken, ihrem Eigensinn herzustellen? Welche Bedeutung kommt dem ästhetischen Lernen im gesamten Bildungssystem zu, was sind seine allgemeinen und spezifischen Beiträge zum Bildungsziel des mündigen, selbst denkenden und selbst Verantwortung tragenden Menschen?

Adorno, Theodor W.: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. Göttingen 1963; Aissen-Crewett, Meike: Musisch-Ästhetische Erziehung in der Grundschule. In: Grundschule, 1987, H. 7/8 bis 1990, H. 10; Dies.: Ästhetischaisthetische Erziehung. Zur Grundlegung einer Pädagogik der Künste und der Sinne. Potsdam 2000; Autorenkollektiv des Zentralinstituts für Sprachwissenschaft: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Berlin 1989; Bräuer, Gottfried: Zugänge zur ästhetischen Elementarerziehung. In: DIFF (Hg.): Musisch-Ästhetische Erziehung in der Grundschule. Grundbaustein 1. Tübingen 1989; Flitner, Wilhelm: Die musische Bildung und die Zeitlage. In: Die Musikpflege, 1931, H. 2; Haase, Otto: Musisches Leben. Hannover 1951; Kossolapow, Line: Musische Erziehung zwischen Kunst und Kreativität. Ideologiegeschichte künstlerischer Selbstaktualisierung im Industriezeitalter. Diss. Tübingen 1975; Krieck, Ernst: Musische Erziehung. Leipzig 1933; Mattenklott, Gundel: Grundschule der Künste. Vorschläge zur Musisch-Ästhetischen Erziehung. Baltmannsweiler 1998; Matthies, Klaus/Polzin, Manfred/Schmitt, Rudolf (Hg.): Ästhetische Erziehung in der Grundschule. Integration der Fächer Kunst/Musik/Sport. Frankfurt a. M. 1987; Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966; Metzger, Heinz-Klaus: Musik wozu. Literatur zu Noten. Frankfurt a. M. 1980; Plessner, Helmuth: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes. Bonn 1923; Ders.: Anthropologie der Sinne. In: Philosophische Anthropologie. Frankfurt a. M. 1970; Straus, Erwin: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie. Berlin, Göttingen, Heidelberg  1956.

GUNDEL MATTENKLOTT

Amateurtheater – Entwicklungspsychologie – Fragment – Geschichte der Pädagogik – ReformpädagogikSinnlichkeit – Volkskunst / Folklore