Objekttheater
Die Wurzeln von O sind theatergeschichtlich von denen des Theaters im Allgemeinen kaum zu unterscheiden. Dienten wahrscheinlich die ersten gezielten Animationen von Materialien (Felle, Äste, Laub) der Beschwörung und dadurch erhofften Verbesserung der Jagd-/Beutechancen, so wurden einzelne, oft wiederkehrende Abläufe oder besondere Episoden auch bald zu → Ritualen, die zur Vorbereitung und Einstimmung auf die Jagd bzw. zu anderen Anlässen gezeigt oder miteinander durchgeführt wurden. Verschiedene Einflüsse wie Feuer, Rauch, Aroma und nicht zuletzt Töne und Geräusche wurden ganz gezielt zur Erhöhung der sinnlichen Wirkung verwendet. Verschiedene Initiationsrituale und Beisetzungsriten hielten in den Kulturen Einzug. Mit der Entwicklung von Religionen entstanden differenzierte Symbole, die als Bilddarstellungen, Plastiken, Reliquien in komplexen Zeremonien, in ritualisierten Abläufen, unter verschiedenen sinnlichen Einflüssen inszeniert wurden und werden. Hinzu kamen unterschiedliche Demonstrationen von Macht in Form symbolischer Akte: Verbrennungen, Feuerwerke, Krönungsakte, Ritterkämpfe, Militärparaden, Flugschauen; später wird ein roter Teppich ausgerollt, leblose Gegenstände, Dinge, Objekte, Materialien sind in Szene gesetzt. Ihre Wirkung ist hervorgehoben, sie sind mit Bedeutung versehen worden und erzählen eine Geschichte.
Als O in weiterem Sinne sind sowohl die Wasserfontänen in einem Springbrunnen, das Enthüllen eines Denkmals, aber auch der Wetterhahn auf dem Dach, eine Weihnachtspyramide, sogar das Herunterlassen eines Rollos im Schlafzimmer zu verstehen, wenn damit eine Geschichte verbunden wird. Bertolt Brecht meint, dass die wichtigste Voraussetzung der Entwicklung der Theaterkunst die Entwicklung der Kunst des Zuschauens sei – in der alltäglichen Theaterarbeit fordert er deshalb auch ,die Kunst der Beobachtung‘ (vgl. Brecht 136ff.). Je mehr es gelingt, natürliche und alltägliche Vorgänge unter theatralem Aspekt zu betrachten, desto leichter können Dinge gefunden werden, die sich als kreatives Material eignen, um inszeniert zu werden.
→ Puppentheater stellt eine Nahtstelle zum menschlichen Schauspiel dar. Je abstrakter die verwendeten Elemente sind, desto mehr handelt es sich um O. Beispielsweise gab es im Weimarer Bauhaus viele Bereiche, die als O in engerem Sinne bezeichnet werden können. Kostüme hatten teilweise derart großen Aufwand und Verfremdungseffekt, dass sie fast als bewegte Skulpturen, Plastiken zu verstehen sind: „Ob hier Kostüm oder Schablone für ein Mechanisches Ballett vorgeführt wird, lässt sich kaum sagen“ (Fiedler 135). Die Arbeiten von Oskar Schlemmer, z. B. das Triadische Ballett, seien in diesem Zusammenhang besonders erwähnt als → Experimente zur Beziehung zwischen Requisit, → Bühnenbild und Darsteller. Geometrische Figuren bewegen sich zu Tönen/Musik, treten untereinander in Beziehung. Der Darsteller tritt dabei teilweise derart in den Hintergrund, dass er fast nur zum Animateur der Kostüme/Requisiten wird.
Im Russland der 1910/20er Jahre gibt es neue Theaterformen, die sich ebenfalls stark der Verfremdung von Dingen und Formen bedienen. Wassily Kandinsky und Wsewolod Meyerhold haben insbesondere die Grenzen zwischen Bildender und Darstellender Kunst aufzuheben gesucht.
In den 1980er Jahren war die Gruppe ,Mummenschanz‘ aus der Schweiz als O in Europa unterwegs. Eine ihrer Szenen zeigt einfach und klar, was O sein kann: Ein riesiger Schukostecker auf Beinen betritt von rechts die Bühne, geht bis zum Bühnenrand. Seine überdimensionalen ,Stielaugen‘ glotzen, untermalt von sentimentaler Musik, minutenlang ins Publikum. Plötzlich erscheint auf der anderen Bühnenseite eine Steckdose und schaut den Stecker an. Es folgt ein scheinbar nicht enden wollendes Spiel gegenseitiger Zuwendung, Abwendung, Annäherung und erneutem Zurückziehen. Zug um Zug werden eine Vielzahl menschlicher Sehnsüchte und Ängste in diesen beiden für einander bestimmten Dingen erzählt. Zum Schluss kommen sie zueinander: Ganz langsam gehen sie in der Bühnenmitte aufeinander zu; man möchte weinen – dann treffen die jeweiligen Kontakte endlich ineinander und es geht ein wunderbares helles Licht im Saal (!) an. Nach einigem Hin und Her und Aus und An kulminiert die Szene in einem Feuerwerk der Lichteffekte und endet im Black – Happyend.
Auch die Performancekünstler und Gruppen, die in den 1970er/80er Jahren in Erscheinung treten, bedienen sich vielfach der Mittel des O- oder Materialtheaters. Erde, Steine, Wasser und vieles andere wurde auf die Bühne, auf Schauplätze geholt. In der ThP kann und sollte dieses Spiel mit Dingen und Material vielfältige Anwendung finden, etwa als: → Improvisation mit Tüchern (Ausdruck verschiedener Naturereignisse und Gefühlszustände) Miniaturtheater (auf einer kleinen Bühne – z. B. einer Streichholzschachtel – entsteht eine Szene, ein Tanz mit unterschiedlichen Hülsenfrüchten, die mit Pinzetten geführt werden); → Zeitungstheater (aus Zeitungen werden Requisiten und Kostümteile gefertigt und es wird zu Musik damit improvisiert; es wird Papiermusik gemacht, die aufgezeichnet und für andere Szenen verwendet werden kann); Alltagsgegenstände werden verfremdet (ein Tanz von Stühlen oder eine Szene zwischen Bügeleisen und Telefon; die Dinge erhalten einen Charakter, eine Rolle, eine Figur: Wie bewegen sie sich, wer ist der Chef und warum? Die Analogie zur → Fabel wird deutlich!);
Gestalten von und Improvisieren mit Objekten (aus Pappmaché, Draht, Karton, Abfall u. a. werden zu einem, möglichst in der Gruppe gefundenen, Thema, z.B. rund und eckig‘, ,schief und gerade‘ Objekte hergestellt und diese in gestaltetem Raum bewegt); Bühnenentwurf (zu einem Thema gestaltet jeder ein schuhkartongroßes Bühnenbild; die Bühnenbilder werden gegenseitig mit entsprechender Musik und anderen ,Sinnesreizen‘ präsentiert; ausgewählte Räume werden gemeinsam mit ,Leben‘ gefüllt, Dinge darin fangen an sich zu bewegen, es gibt einen Lichtwechsel, einzelne Bühnenelemente verändern sich, beginnen zu erzählen);
Schatzkästlein (in einem Kästchen finden sich kleine ,Schätze‘, etwa ein Räucherkegel, ein Knopf, ein Stein, ein Zahnrad: Wie kommen gerade diese Dinge in diese Kiste? Wie ist die Vorgeschichte, wie geht’s weiter?).
Auf einem Festival in Roskilde (Dänemark) wurde einst ein Bus ,gegrillt‘ (dies nur als Beispiel für extreme Verfremdung – eventuell begibt man sich gemeinsam mit einer Gruppe auf die Suche nach Möglichkeiten, Gegenständen in ungewöhnlichem Kontext zu neuer Bedeutung zu verhelfen, z. B. indem ein Sofa auf einen hohen Berg gestellt wird).
Immer wieder ist zu beobachten, dass die Hemmschwelle beim Umgang mit Materialien und Gegenständen viel geringer ist als beim szenischen Spiel in einer Rolle. Das Verständnis für die darzustellende Situation vorausgesetzt, sind die Spieler viel eher bereit, sich einem O-Spielvorgang zur Verfügung zu stellen. Gesten der Verlegenheit, des Überagierens und Effekthascherei sind viel weniger zu befürchten. Theaterbegriffe wie Aktion und Reaktion, Zug um Zug sind sehr leicht und deutlich zu etablieren. Außerdem schult dieser nahe Umgang mit den Dingen natürlich – wie bei Brecht gefordert – den Blick auf die Realität. Bestehende Rezeptionsmuster werden hinterfragt. Fantasie oder Lust an Einflussnahme und Kreativität werden geweckt.
Zudem bietet der ,etwas andere‘ Umgang mit Dingen und Material den Effekt, dass sich ein individuelleres Wertbild entwickeln kann und insbesondere Jugendliche tendenziell von Moden, schnelllebigen Trends und kurzlebigen Produkten unabhängiger werden. Nehme ich die Dinge, ihre Eigenschaften und Eigenarten differenzierter wahr, kann ich den Wert der Dinge, die mich umgeben, besser einschätzen, wertschätzen. Falls diese Sensibilität auch auf sich und die Betrachtung der Mitmenschen abfärbt, ist das nicht schädlich.
Brecht, Bertolt: Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung. In: Ders.: Über Theater. Leipzig 1969; Fiedler, Janine/Feierabend, Peter: Bauhaus. Köln 1999.
OLAF KADEN
→ Happening – Magie – Minidrama – Mitspiel(theater) – Performance – Puppentheater / Figurentheater – Theater als öffentliche Institution – Theatralität