Rezeptionsforschung
R hat ihre Bedeutung in den 1940er Jahren in den USA und in den 1960er Jahren in der BRD im Rahmen der Medienwissenschaften erlangt. Sie stellt die methodisch kontrollierte Untersuchung der sinnlichen Wahrnehmung und kognitiven/emotionalen Verarbeitung medialer Angebote durch eine definierte Rezipientengruppe dar. Im Unterschied zu den Medienwissenschaften blieb es bisher bei vereinzelten Versuchen der → Theaterwissenschaft, die Aufführung als ,Objekt einer dritten Welt‘ (Popper) zu untersuchen, also als Verarbeitungsleistung des Zuschauers, in der der theatrale Vorgang seine Identität erhält und verändert. Obwohl seit Ende der 1960er Jahre der Zuschauer in den Definitionshorizont der Theatertheorien rückte, fand er allenfalls in theatergeschichtlichen Studien (vgl. Fischer-Lichte) oder als impliziter Zuschauer theoretisches Interesse (als ,primärer Spieler‘ vgl. bei Wekwerth oder im Sinne der Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule – vgl. Pavis). Als empirischem Zuschauer blieb ihm die Aufmerksamkeit der Wissenschaft bisher weitgehend versagt, und dies trotz der Tatsache, dass keine der traditionellen Kunstgattungen in ihren Produktionszusammenhängen so unmittelbar an ihren Adressaten gebunden ist wie das Theater. Diese Zurückhaltung erklärt sich aus der Sache selbst: Die Erforschung der geistig-emotionalen Aktivität des Zuschauers gehört nicht in den unmittelbaren Gegenstandsbereich der Theater-, sondern in den der Sozialwissenschaft(en) und der Psychologie. Nur im interdisziplinären Austausch mit diesen Bezugswissenschaften kann R ihre methodologischen Implikationen und ihre methodischen Instrumentarien entwickeln. Solche Grenzüberschreitungen hat die Theaterwissenschaft bisher kaum unternommen.
Empirische R im engeren Sinne ist abzugrenzen von der historisch oder soziologisch orientierten Publikumsforschung. Erstere fragt nach der Veränderung des Publikumsverhaltens im Laufe der → Theatergeschichte. Letztere erhebt soziodemografische Daten zur Publikumsstruktur. Die umfangreichsten soziologischen Studien kamen bisher aus dem von Roger Deldime geleiteten Zentrum für Theatersoziologie in Brüssel und der Theaterhochschule ,Hans Otto‘ Leipzig in Verbindung mit dem Institut für Jugendforschung Leipzig.
Bereits in den frühen 1970er Jahren setzte der Münchner Theaterwissenschaftler Heribert Schälzky in einer Art Laboruntersuchung unterschiedliche Messverfahren ein, um die intuitiv-affektiven Verarbeitungsleistungen des Zuschauers mit ,objektiven‘ Methoden zu erfassen. Diese Versuche wurden insbesondere von Vertretern der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik in Zweifel gezogen.
Ebenfalls in den 1970er Jahren wurde an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ein Institut für Publikumsforschung gegründet, das historische, methodologische und experimentelle Ansätze der Zuschauerforschung systematisch überprüfte, weiterentwickelte und Ergebnisse der internationalen Forschung in zwei Symposien (Venedig 1975, Wien 1976) der Fachöffentlichkeit vorstellte (vgl. Kindermann 1977). An der Wiener Universität ist das 1945 gegründete Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften ansässig, das empirische Forschungsschwerpunkte einzelner Mitarbeiter unterstützt.
In den am Theaterwissenschaftlichen Institut der Universität Amsterdam (Leitung Henri Schoenmakers) initiierten empirisch-theoretischen Studien und in dem 1981 ins Leben gerufenen Forschungszentrum des Theaterwissenschaftlichen Instituts der Universität Stockholm (Leitung Willmar Sauter) wurden unterschiedliche quantitative und qualitative Verfahren zur Erfassung des theatralen Kommunikationsprozesses entwickelt, die auf die Analyse des spezifischen theaterästhetischen Urteils des Zuschauers gerichtet sind und damit auf die Entwicklung eines Theatralitätsbegriffs, der Hermeneutik, Semiotik und Empirie verknüpft.
Über die Verbindung von soziologischen und rezeptionspsychologischen Erhebungen richten sich die in den 1970er/1980er Jahren durchgeführten Leipziger Studien (vgl. Dreßler; Dreßler u. a.) auf pädagogisch intendierte Fragestellungen: Wie kann mittels der Erkenntnisse über theatrale Rezeptionsprozesse der Kunstsinn, die ,Zuschaukunst‘ eines breiten (auch bildungsfernen) Publikums gefördert werden?
Ein Forum zur Diskussion rezeptionstheoretischer und -psychologischer Forschungsprojekte im Bereich des Theaters ist die ICRAR (International Committee for Reception and Audience Research, eine Unterorganisation der University Commission of the International Federation for Theatre Research; gegr. 1955) und die Fachgruppe Rezeptionsforschung in der Deutschen Gesellschaft für Publikums- und Kommunikationswissenschaft.
Die im Rahmen der ThP angesiedelte R war ein Spezifikum des DDR-Kinder- und Jugendtheaters. Im Ost-Berliner ,Theater der Freundschaft‘ wurde seit Beginn der 1970er Jahre unter Leitung von Kristin Wardetzky systematisch und langfristig das Rezeptionsverhalten von Kindern und Jugendlichen in umfangreichen Studien erforscht. Basierend auf dem spieltheoretisch begründeten Konzept vom aktiven Zuschauer, von der Rezeption als kreativem Prozess, wurden spezielle quantitative und qualitative, insbesondere auch projektive und non-verbale, aus der Psychodiagnostik abgeleitete Verfahren entwickelt und eingesetzt. Neben dem Erfassen der Reaktion auf eine konkrete Inszenierung ging es um die Erforschung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der kindlichen Theaterrezeption, der Langzeitwirkung von Theatererlebnissen und der lebensweltlich erworbenen Erfahrungen der jungen Zuschauer, die den Rezeptionsprozess (mit) konstruieren. Die Anlage der Untersuchungen musste dem Alter des jeweiligen Publikums entsprechen wie auch den Besonderheiten der zu untersuchenden →Inszenierung. Gleichzeitig hatte sie strenge sozialwissenschaftliche Forschungsstandards zu erfüllen, und die Ergebnisse mussten innerhalb des Künstlerensembles so vermittelt werden, dass sie zur Quelle der Inspiration für neue Theatervorhaben werden konnten. Die Reichweite und die den künstlerischen Prozess befruchtenden Potenziale dieser Untersuchungen waren gebunden an das spezifische Theatersystem der DDR: Die → Ensembles arbeiteten über einen längeren Zeitraum zusammen, die Fluktuation war gering (was auch zu Stagnation und Überalterung führte), die Spielleiter hatten die Möglichkeit, über längere Zeit ein Ensemble künstlerisch zu formen, eine bestimmte Ästhetik zu entwickeln und bestimmte Spielplanlinien auch experimentell zu erproben.
Mit der Veränderung der Theaterlandschaft wurde die thp R zu einer marginalen Erscheinung, realisiert im Rahmen kleinerer Projekte, die keine nennenswerte Aufmerksamkeit über das jeweilige Spielensemble hinaus fanden (unveröffentl. Untersuchungen von Bettina Groß im carrousel-Theater Berlin; Marianne Brentzel/Silvia Kühnel am Kinder- und Jugendtheater Dortmund; eine von Martin Selge betreute Untersuchung zu Krabat am Theater Aalen; Mira Sack).
Charlton, Michael/Barth, Michael: Interdisziplinäre Rezeptionsforschung. Ein Literaturüberblick. Freiburg 1995; Deldime, Roger/Pigeon, Jeanne: La memoire du jeune spectateur. Bruxelles 1988; Dreßler, Roland: Zur Rezeptionsforschung der Theaterwissenschaft. In: Material zum Theater, Nr. 130, Berlin 1980; Ders./Wiedemann, Dieter: Von der Kunst des Zuschauens. Berlin 1986; Fischer-Lichte, Erika: Die Entdeckung des Zuschauers auf dem Theater. Paradigmawechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. Tübingen, Basel 1997; Kindermann, Heinz: Das Theater und sein Publikum. Referate der Internationalen theaterwissenschaftlichen Dozentenkonferenzen in Venedig 1975 und Wien 1976. Wien 1977; Kirschner, Jürgen/Wardetzky, Kristin: Kinder im Theater. Dokumentation und Rezeption von Heleen Verburgs ,Winterschlaf‘. In: Schriftenreihe der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, Bd. 25. Frankfurt a. M. 1993; Pavis, Patrice: Semiotik der Theaterrezeption. Tübingen 1988; Rössler, Patrick/Hasebrink, Uwe/Jäckel, Michael (Hg.): Theoretische Perspektiven der Rezeptionsforschung. München 2001; Sack, Mira: WeiterSpielen als produktive Form der Theaterrezeption. In: Neuß, Norbert (Hg.): Ästhetik der Kinder. Interdisziplinäre Beiträge zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Frankfurt a. M. 1999; Sauter, Willmar (Hg.): New Directions in Audience Research. Advances in Reception and Audience Research 2. Utrecht 1988; Schälzky, Heribert: Empirisch-qualitative Methoden in der Theaterwissenschaft. München 1980; Schoenmakers, Henri (Hg.): Performance Theory – Reception and Audience Research 1–3. Utrecht 1986; Ders.: The Spectator in the Leading Role: Developments in Reception and Audience Research with Theatre Studies: Theory and Research. In: Sauter, Willmar (Hg.): Nordic Theatre Studies: Special International Issue. New Directions in Theatre Research. Proceedings of the Xth FIRT/IFTR Congress. Stockholm 1990; Wardetzky, Kristin: Psychologisch-pädagogische Untersuchungen zur Aneignung von Theater durch Kinder der Klassen 2 bis 8. Dissertation A. Humboldt Universität zu Berlin 1983; Wekwerth, Manfred: Theater und Wissenschaft. Berlin 1972; Winter, Rainer: Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozeß. München 1995.
KRISTIN WARDETZKY
→ Amateurtheater – Recherche – ZuschauSpieler