Selbsterfahrung

Im Rahmen des ,Psychobooms‘ der letzten zwanzig Jahre wurde S zu einem wichtigen Thema zumeist mittelschichtorientierter Psychogruppen und der Esoterik-Szene, gekennzeichnet durch die Ausblendung gesellschaftlicher Bezüge. Vor diesem Hintergrund und emanzipatorisch gedacht, ist es sinnvoller von biographischer Selbstreflexion zu sprechen. S heißt ursprünglich, sich in Anwesenheit gewährender Anderer auf die eigene Person zu besinnen und in der aktiven Auseinandersetzung mit den Anderen sich besser kennen zu lernen. Besonders wichtig für ein Gelingen dieser >Interaktion ist das Prinzip der authentischen und offenen, von Empathie getragenen sozialen Rückmeldung. S soll einen Prozess in Gang setzen, der gezielte Veränderungen an sich selbst sowie an der Umwelt ermöglicht.

Die biographische Selbstreflexion, wie sie insbesondere von Herbert Gudjons u. a. 1994 herausgearbeitet worden ist, stellt den Versuch dar, durch Aktualisierung und Reflexion eigener vergangener Erfahrungen sich die eigene Biographie auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Bedingungen anzueignen. Biographische Selbstreflexion bezieht sich auf das von Jürgen Habermas entwickelte Konzept der Selbstreflexivität: „Ein Akt der Selbstreflexion, der ein Leben ändert, ist eine Bewegung der Emanzipation“ (Habermas 261). Theoretische Bezüge für die Praxis der biographischen Selbstreflexion lassen sich zu der auf die bereits 1918 in die Soziologie von Thomas und Znaniecki eingeführten biographischen Methode herstellen sowie zu den Erkenntnissen des symbolischen Interaktionismus, wonach die Identität der Gesellschaftsmitglieder in Interaktion entsteht und sich verändert, wobei diese aktiv die Bedingungen ihrer Sozialisation mitbeeinflussen, dass Gesellschaft in Interaktion entsteht und dass Gesellschaft nur insoweit besteht, als sie in Interaktion realisiert wird.

Hier setzen thp Methoden an. Besondere Bedeutung für eine Verwendung des szenischen Spiels in diesem Zusammenhang gewinnt das ebenfalls von Gudjons u. a. verwendete Konzept des ,Körpergedächtnisses‘, das auf der Basis der psychosomatischen Medizin und verschiedenen Richtungen der Körpertherapie davon ausgeht, dass sich die lebensgeschichtlichen Erfahrungen eines Menschen auch auf der physischen Ebene des Körpers spiegeln. Dieses Körpergedächtnis gilt es ebenfalls zu aktivieren, um Veränderungsprozesse zu ermöglichen.

Eine weitere Grundlage für die Arbeit mit theatralen Prozessen bildet die Auseinandersetzung mit dem von Jacob Moreno erfundenen Psychodrama, in dem durch szenisches Spiel die biographische Reflexion sowohl auf psychischer wie auf physischer Ebene erfolgt (vgl. Gipser u. a.). Der theatrale Forschungs- und Handlungsprozess ist zugleich ein Bewusstwerdungsprozess. Paulo Freire hat in seiner Pädagogik der Unterdrückten (1971) mit der problemformulierenden Methode einen Ansatz entwickelt – auf den sich Augusto → Boal mit seinem Theater der Unterdrückten (1976, dt. 1979) bezieht –, der die Prozesse wechselseitiger Beeinflussung von Handlung, Sprache und Bewusstsein beschreibt und für die Emanzipation nutzbar macht. Unterdrückung erzeugt eine ,Kultur des Schweigens‘, indem die Menschen ihres Wortes, ihres Ausdrucks und ihrer Kultur enteignet werden. Die Wiederaneignung schöpferischer Kompetenz im Prozess der Handlung und der Reflexion beendet im Gestalten neuer Haltungen und Bedeutungen die Resignation und die Passivität. Der Entwurf neuer Wirklichkeit bedarf der Ergänzung durch Handlungsentwürfe, die den Weg zur praktischen Umsetzung aufzeigen. Unter Einbeziehung der von Boal entwickelten Techniken des Forumtheaters (vgl. Gipser) werden neue Handlungsentwürfe erprobt. Das langjährige Hochschul-Projekt Der brüchige Habitus (vgl. Bülow-Schramm u.a.) arbeitet erfolgreich mit Boals Methoden. Mit der Entwicklung von Phantasie und Kreativität wächst auch der Mut, sich in realen Situationen anders zu verhalten. So gesehen wird emanzipatorische S hauptsächlich von jenen betrieben, die sich mit sich selbst und aber auch mit den Verhältnissen, in denen sie sozialisiert worden sind und leben müssen, nicht abfinden können und  wollen.

Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1979; Bülow-Schramm, Margret/Gipser, Dietlinde (Hg.): Der brüchige Habitus. Empirische Erforschung kooperativer Handlungsmöglichkeiten von StudentInnen und HochschullehrerInnen. Hannover 1991; Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Stuttgart 1971; Gipser, Dietlinde: Das Forumtheater. Spielend Wege des Handelns entwerfen und wählen. In: Datta, Asit (Hg.): Lehrspiele – Lernspiele. Hannover 1986; Dies./Kunze, Sabine: Katzen im Regen. Das Drama mit dem Psychodrama. Hamburg 1989; Gudjons, Herbert/Pieper, Marianne/Wagener, Birgit: Auf meinen Spuren. Das Entdecken der eigenen Lebensgeschichte. Hamburg 1994; Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘. Frankfurt a. M. 1968.

DIETLINDE  GIPSER

Authentizität   –   Autobiographisches   Theater   – Hochschuldidaktik – Kommunikation –  Leiblichkeit- Rollenspiel – Szenische Interpretation – Theaterarbeit aus Erfahrungen – Theatertherapie