Sinnlichkeit
S, d. h. die Fähigkeit zur Perzeption, das Wahrnehmungsvermögen, kann als Haltung bezeichnet werden, unter deutlichem Einsatz der Sinne sich selber sowie der Welt zu begegnen und darüber Wissenszugang zu erlangen (vgl. Zimmer). Eine Strukturierung des Wahrnehmungsprozesses kann erfolgen nach den einzelnen Sinnessystemen, den Erkenntnistätigkeiten, Sinnesorganen, Rezeptoren, Reizen oder nach den gewonnenen Informationen. Zur Bestimmung von Empfindungen gehören vor allem Qualität, Intensität sowie Dauer.
Seit den 1980er Jahren erlebt die S eine Renaissance in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Zum Lebensprinzip erhoben, avanciert sie als integraler Bestandteil des Ästhetischen zu einem zentralen, interdisziplinär verhandelten Thema. So sind S und Körperlichkeit stärker als bisher in ihrer Bedeutung für Sozialisierungs- und Bildungsprozesse anerkannt und wirken nicht nur in der traditionellen Verbindung von Pädagogik und Ästhetik, der Kunstpädagogik, sondern auch in der außerschulischen Jugendarbeit, Erwachsenenpädagogik, Sozialpädagogik, Gesundheitserziehung, Sport- und Ökopädagogik, interkulturellen Erziehung, Medienpädagogik, in der allgemeinen (Schul-)Didaktik. Daneben sind Praxis-Orte entstanden, in denen ästhetische, nonverbale Tätigkeit im Vordergrund steht im Kontext sozialer Kulturarbeit oder Museumspädagogik.
Wahrnehmung und Erkenntnis – Seit der Antike wird die Bedeutung der Wahrnehmung für das Erlangen von Erkenntnis erforscht (vgl. Hügli u. a.). Ergebnisse gestaltpsychologischer Forschung (z. B. Ehrenfels, Wertheimer, Köhler, Koffka) kennzeichnen sinnliche Wahrnehmung als nicht elementaristisch-reizhaft, sondern als ganzheitlich gestaltet. Trotzdem unterliegen Sinnesentscheidungen und -präferenzen der Selektion. Auch Medien wie Sprache, Schrift, Zeichen und Signale, Fernsehen und Computer strukturieren die Wahrnehmung. Umstritten ist, ob es eine reine (ungedeutete, theoriefreie) Wahrnehmung gibt oder ob alle Wahrnehmung bereits vorstrukturierte Sinneserfahrung von etwas ist. Ungeklärt sind auch Hierarchie, Bedeutung und Struktur der Wahrnehmungsfelder der einzelnen Sinne im Erkenntnisprozess.
Soziologie der Sinne – Aus soziologischer/anthropologischer Sicht bleibt es (vgl. Kamper u.a. 10) bis in Wahrnehmungsprozesse offen, „ob der Körper modellhaft Zeugnis für eine ,natürliche‘ Sprache oder eine ,geschichtliche‘ Schrift ablegt“. Daraus resultiert auch die Frage, ob die – historischen und sozialen Sinnstiftungen ausgesetzten – menschlichen Sinne gemäß der poststrukturalistischen Perspektive passiv erleiden oder in der Lage sind, handelnd Einfluss zu nehmen. Die Ansätze des sensate body und embodiment (vgl. u. a. Synnott; Csordas) bemühen sich um das Zusammenbringen beider Positionen und kreieren ein Verständnis einer aktiven Beziehung zwischen sinnesbezogenem Körper und Mitwelt. Gleichwohl werden die Sinne als neues Forschungsfeld entdeckt, das sinnliche Wissenszugänge sowie soziokulturelle und sinnliche Implikationen untersucht und die ,Sinne im Konkurs der Geschichte‘ (vgl. Kamper u. a.) bis zum ,ästhetischen Aufbruch‘ (vgl. Probst) verfolgt. Die (Über-)Betonung der Sinne ruft Wehrlosigkeit und Leiden hervor, verweist aber auch auf ihre Optionen: Geht es um gesellschaftliche Inbetriebnahme letzter Körperressourcen oder um Befreiung von traditionellen Sinnstrukturen? Für Wolfgang Welsch ist die Postmoderne durch eine Dialektik von Ästhetischem und Anästhetischem gekennzeichnet. Die Überbetonung des Ästhetischen schlägt um in Anästhetik und erzeugt Empfindungslosigkeit und Desensibilisierung – Zustände, die unter Umständen mit Erfordernissen aktueller Realität korrespondieren. Es scheint keinen Indikator dafür zu geben, dass sich unsere sinnliche Ausstattung auf der Ebene der Physiologie verschlechtert hat oder dass die sinnliche Qualität der Umwelt geringer geworden wäre, auch nicht im städtischen Bereich. Als ungenügend sieht er jedoch die Anpassung der Sinne an die Anforderungen der gegenwärtigen Umwelt (vgl. Welsch).
Anschaulichkeit und Pädagogik – Horst Rumpf präsentiert in Die übergangene Sinnlichkeit die Schule als institutionellen Ausdruck des cartesianischen Weltbildes, die formal-abstrakte Bildung in den Vordergrund stellt und – indem sie den Körper aus Lehr- und Lernprozessen aussperrt – die Ablösung partikulärer S betreibt (vgl. Rumpf). Ansätze zu Bedeutung und Effekten medialer Anschaulichkeit (vgl. Postman) und zu einer sich möglicherweise neu konstituierenden Beziehung zwischen digitaler Technologie und Körperlichkeit (vgl. Leeker) stehen dieser zivilisationskritischen Perspektive kontrovers gegenüber. S als Platzhalter einer auf Anschauung basierenden Pädagogik verweist auf die → Didaktik von Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Fröbel. Mit der Zielstellung, die Funktionstüchtigkeit einzelner Sinnesorgane zu trainieren, um dadurch die Verstandestätigkeit zu erweitern, repräsentieren diese jedoch eher rationalistische statt erfahrungsorientierte Tradition. Reformpädagogen, die gegen die Reduktion von S aufbegehren, verharren z. T. in der Dichotomie sinnlicher Erfahrung und geistiger Erkenntnis. Die Gestaltbarkeit der Welt zu erfahren; Experimentierfreudigkeit wecken, um das Ausmaß ästhetischer Wirkungen zu erleben; die Variationsbreite der Wahrnehmungen, Ausdrucksweisen sowie Genussmöglichkeiten zu erkennen – so benennt Hartmut von Hentig Ziele ästhetischer Erziehung; dies könnten gleichfalls Perspektiven einer neuen körper- und sinnesbezogenen Pädagogik sein (vgl. Hentig).
Ausblick – Von sinnlicher/ästhetischer Kompetenz wird Selbstentfaltung, Ausbildung von Ich-Identität, Vorantreiben der Emanzipation des Menschen erwartet, die das Alltagsverhalten (z. B. Konsumverhalten) bewusst und veränderbar macht und Erfahrungsgrenzen transzendiert. Bemühungen, das Alltagsleben genuss- und lustvoll zu gestalten, die daraus resultierende Ästhetisierung der Lebensumwelt, in der sich soziale Milieus aus dem Lebensstil konstituieren, die hedonistische Ausrichtung in Jugendkulturen sind Ausdruck für die Herausbildung von S als Lebensprinzip. Das Gelingen des sinnlichen Weltzugangs und die entstehenden Effekte sind jedoch abhängig von der Entwicklung von Perzeptions- und Reflexionskompetenz.
Csordas, Tom (Hg.): Embodiment and Experience. In: Cambridge Studies in Medical Anthropology, Vol. 2. Cambridge 1994; Engel, Gisela/Notz, Gisela (Hg.): Sinneslust und Sinneswandel. Zur Geschichte der Sinnlichkeit. Berlin 2001; Hentig, Hartmut von: Ergötzen, Belehren, Befreien. Schriften zur ästhetischen Erziehung. Wien 1985; Hügli, Anton/Lübcke, Paul (Hg.): Philosophielexikon. Reinbek 1997; Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.): Das Schwinden der Sinne. Frankfurt a. M. 1984; Koch, Gerd/ Naumann, Gabriela/Vaßen, Florian: Ohne Körper geht nichts. Lernen in neuen Kontexten. Milow 1999; Leeker, Martina: Like Angels. Wohl bekomms dem Körper in den S(t)immulatoren vom Flug bis zum Sex. In: Koch, a.a.O.; Postman, Neil: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt;1983 Probst, Peter: Von der somatischen Wende zum ästhetischen Aufbruch. In: Koch, a.a.O.; Rumpf, Horst: Die übergangene Sinnlichkeit. München 1981; Synnott, Anthony: The Body Social. Symbolism, Self and Society. London 1993; Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990; Zimmer, Renate: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Freiburg 1995.
GABRIELA NAUMANN
→ Ästhetische Bildung – Ästhetische Kompetenz – Erlebnispädagogik – Leiblichkeit – Musisch-ästhetische Erziehung – Reformpädagogik – Selbsterfahrung- Spaß