Soziokultur
S ist eine programmatische Bezeichnung für Diskurse, Inhalte, Praxis- und Organisationsformen, die einen ,erweiterten‘, d. h. nicht auf künstlerische Aspekte eingeengten Kulturbegriff proklamieren. Man kann folgende vier Bedeutungen von S unterscheiden:
- S als programmatische Offensive zur Neubestimmung der Kulturpolitik. Hier beschreibt S einen Reformanspruch, der Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre geltend gemacht wurde und sich gegen die bis dahin eher restaurative Kulturpolitik im Westen Nachkriegsdeutschlands wandte. Den Begriff S brachten Hermann Glaser und Karl Heinz Stahl 1974 in die deutsche Debatte ein (vgl. Glaser u. a.). Es ging ihnen darum, die Gesellschaft durch Kultur zu demokratisieren und mit einem Kulturverständnis zu brechen, das die Welt des Geistes adelte und zur eigentlichen Kultur erhob, zu einem bürgerlich-idealistischen Reich, das sich von den Niederungen bloßer Zivilisation abwandte. Diese Kulturauffassung wurde auch als affirmativ bezeichnet (vgl. Marcuse). Mit Kultur demokratisieren hieß – und dazu diente das präfixoide ,Sozio-‘ -, sie ganzheitlich zu fassen, sie mit dem Leben zu versöhnen, Chancengleichheit zu entwirklichen und Mitbestimmung zu ermöglichen; weg von einer elitären Hegemonialkultur des schönen Scheins, hin zu pluralisierten Formen ästhetischer Praxis mit einer „Kultur für alle“ und „von allen“ (vgl. Hoffmann). Jegliche Kultur solle S sein. Jener Entwurf partizipativer S bricht auch mit dem Mentalitätsmuster, das die autonome bürgerliche Kultur trug, mit dem ,unpolitischen Kulturmenschen‘. → Kommunikation, ein Schlagwort dieser Stunde, müsse die Einseitigkeit aufbrechen, in der man neutral bleibt. Ästhetisches Lernen, gezielter Umgang mit Informationen, Kritikfähigkeit, die Vermittlung von Ethik und Ästhetik: Dies sind Themen, deren umfassende Bewältigung zum Rückgewinn eines „Behagens in der Kultur“ führen sollte, wenn „die Mitbestimmung des Individuums durch Mitbestimmung in und an der Gemeinschaft […] in den Spielräumen der Kultur“ (Glaser u.a. 141) eingeübt werde. Diese eng an den S-Diskurs gebundene Kulturpolitik, die sich umfassend als Gesellschaftspolitik begreift, wird als ,Neue Kulturpolitik‘ bezeichnet (vgl. Röbke).
- S als angewandte (Kultur-)Praxis bewegungsorientierter und kritischer Milieus, die in eine flächendeckende Etablierung selbstverwalteter Soziokultureller Zentren und Initiativen mündete. Diese parallel zur Herausbildung neuer kulturpolitischer Präferenzen entstandenen Einrichtungen, die zunächst mehrheitlich als Kommunikationszentren firmierten, organisierten sich 1979 erstmals bundesverbandlich und bilden spätestens seitdem eine überwiegend akzeptierte Kultursparte (vgl. Kämpf 29ff.). S in diesem Sinne beschreibt basis- und nutzerorientierte Einrichtungen vor allem selbstorganisierter Angebote und Kurse aller Kunst- und Kulturformen, die verschiedene Altersgruppen, soziale Schichten und Nationalitäten ansprechen (vgl. Husmann u.a.). Wichtigste Eigenschaft ist die hohe Eigenaktivität und Selbstreflexivität, die Soziokulturelle Zentren zu entwicklungsoffenen, gemeinwesenorientierten Institutionen macht. Sie begreifen sich als ,von unten‘ etabliert (vgl. Schulze) und bieten eine bewusste Alternative zu profitorientierten oder kommunalen Einrichtungen.
- S als experimentelle oder kulturpädagogische Methode, in klassischen Feldern des Kulturbetriebs (etwa Theater, Museen) oder anderen Bereichen neue Formen der kulturellen Produktion und Vermittlung umzusetzen. Mit Hilfe der S wurde nicht nur eine inhaltliche Klammer zur Zusammenführung unterschiedlicher Ansätze aus den Bereichen Kultur, Bildung, Soziales und Freizeit etabliert, sondern auch ein neues, freieres Gestaltungsprinzip kultureller Arbeit. S wirkt so als Richtungsimpuls für zielgruppenspezifische, beteiligungsorientierte oder spartenübergreifende Vermittlung etwa in Jugendkunstschulen, im Bereich der ThP, der Erwachsenenbildung, in Bürger- und Freizeithäusern oder Geschichtswerkstätten. Dabei steht S für kreatives, selbstmotiviertes Lernen, Denken über einen abgegrenzten Gegenstand hinaus und erweiterten Kontextbezug (z. B. Umwelt, Stadtentwicklung, Rolle Benachteiligter). Maßstab dafür sind die innovativen Arbeitsformen der S, wie sie in der Regel in Soziokulturellen Zentren praktiziert werden: Projektmethode, Offene Bereiche, Werkstätten, Veranstaltungen zwischen Konsum und Partizipation, Kursangebote, Gemeinwesenarbeit und Begegnung/Gastronomie (vgl. Baer u. a. 154 ff.). Diese Arbeitsformen verfolgen insbesondere folgende Ziele: umfassende Partizipation, ganzheitliche Aneignung, Abbau von Zugangshemmnissen, offenere und flexiblere Planung und Durchführung von Vorhaben, Herstellung gesellschaftlicher Relevanz und individueller Handlungsfähigkeit.
- S als Leitbegriff zur Umstrukturierung der DDR-Breitenkultur und Begünstigung der Entstehung einer freien, demokratischen Kulturszene ab 1990. In diesem Zusammenhang wird häufig auch eine bestimmte Kulturpraxis der DDR retrospektiv als ,soziokulturell‘ oder Vorläufer gegenwärtiger S bezeichnet. Zwar gab es eine kulturelle Praxis, die mit einem nachhaltig wirksamen ,weiten‘ Kulturbegriff operierte, doch handelte es sich um zentralistische Strukturen der Planung und Steuerung, die eine selbstbestimmte, von staatlicher Kontrolle unabhängige Kulturarbeit nicht zuließen. Träger dieser breiten Kulturarbeit waren die Einheitsgewerkschaft FDGB und die Jugendorganisation FDJ; bekannt ist dieses Wirken unter dem Begriff des ,kulturellen Volksschaffens‘ (vgl. Groschopp). Es gab folglich weder eine basisdemokratische Organisation, die den Aufbau einer Initiative ,von unten‘ ermöglicht hätte, noch einen kritischen kulturpolitischen Diskurs. Nach der politischen Wende wurde der inzwischen auch von der Bundesregierung (vgl. Deutscher Bundestag) nobilitierte S-Begriff durch Akteure und Verantwortungsträger eingebracht, um struktur- und förderpolitische Rahmenbedingungen, aber auch inhaltliche Entwicklungen im Osten adäquat zu unterstützen. Dabei trafen sich kulturpolitische Bemühungen und akteurbezogene Erfahrungen und Absichten (vgl. Karstein).
S kann semantisch nicht eindeutig bestimmt werden, obwohl das präfixoide ,Sozio-‘ auf ,sozial‘ hinweist. Die Sozialwissenschaft kennt zwar eine Adjektivform ,soziokulturell‘ mit der Bedeutung ,die soziale Gruppe und ihr kulturelles Wertsystem betreffend‘. Diese Dimension trägt jedoch nicht oder nur teilweise die Bedeutungen des Substantivs S, das auch in Sprachlexika nicht verzeichnet ist. Man muss insofern von einem Neologismus ausgehen, mit dem gesellschaftliches Leben und kultureller Ausdruck in eine unauflösbare, vitale Beziehung gesetzt werden sollen. Aufkommen und Gebrauch des Begriffes stützen diese Auffassung und qualifizieren ihn als Fachbegriff der Kulturarbeit und Kulturpolitik.
Baer, Ulrich/Fuchs, Max: Arbeitsformen der Soziokultur. In: Sievers, Norbert/Wagner, Bernd (Hg.): Bestandsaufnahme Soziokultur. Stuttgart 1992; Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD vom 25. 4. 1990. Drucksache 11/6971; Glaser, Hermann/ Stahl, Karl Heinz: Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur. München 1974; Groschopp, Horst: Gab es in der DDR Soziokultur? In: Arbeitsgruppe Soziokultur im Freistaat Sachsen (Hg.): Soziokultur in Sachsen. Dresden 1994; Hoffmann, Hilmar: Kultur für alle. Frankfurt a. M. 1981; Husmann, Udo/Steinert, Thomas: Soziokulturelle Zentren. Hagen 1993; Kämpf, Andreas: Positionen. In: Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren (Hg.): www.soziokultur.de/20 – Bundeskongress soziokultureller Zentren. Dokumentation. Essen 2000; Karstein, Uta: Ferner Osten? Biografische Zugänge zur Ostdeutschen Soziokultur. Potsdam 2002; Knoblich, Tobias J.: Das Prinzip Soziokultur – Geschichte und Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11/ 2001; Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur. In: Kultur und Gesellschaft, Bd. 1. Frankfurt M. 1965; Röbke, Thomas (Hg.): Zwanzig Jahre Neue Kulturpolitik. Erklärungen und Dokumente 1972–1992. Hagen 1993; Schulze, Joachim: Soziokulturelle Zentren – Stadterneuerung von unten. Essen 1993.
TOBIAS J. KNOBLICH
→ Amateurtheater – Arbeitsfelder der Theaterpädagogik – Geschichte der Sozialpädagogik – Kultursozialarbeit – Zielgruppe