Stegreif
Die seit Ende des 16. Jhs. in Deutschland agierenden englischen Komödianten und italienischen Commedia dell’Arte-Truppen beeinflussten den Spielstil der deutschen Wandertruppen in der Haupt- und Staatsaktion sowie die Entwicklung der Wiener S-komödie (vgl. Asper 7, 122). Diese Truppen bezogen ihre schauspielerischen Fertigkeiten u. a. aus der Disziplin des S-spiels. Noch im 20. Jh. sind Theaterarbeiten (u. a. von Giorgio Strehler) nachhaltig von der Idee des S beeinflusst. Strehler stellt sich die Frage nach dem Ursprünglichen des Theaters und macht den Versuch, die lebendige Wirklichkeit der S-komödie im Theater der Gegenwart zu erneuern (vgl. Strehler).
Der Begriff S ist heute lediglich in der Fügung ,aus dem Stegreif‘ gebräuchlich. Er geht zurück auf die ältere Benennung für ‚Steigbügel‘ – althochdeutsch stegareif, mittelhochdeutsch steg(e)reif mit der Grundbedeutung ,ohne vom Pferd abzusteigen‘ (Duden 3716). (Fast) ohne Vorbereitung wird aus dem Augenblick heraus improvisiert.
Ein Charakteristikum des historischen S-spiels ist die unliterarisierte Spielanweisung: Die Kanevas (kurze Fabel- und Handlungsanmerkungen sowie Angaben zu komischen Situationen), Repertoires (Sammlungen von Monologen, Dialogen, die auf diverse Situationen anwendbar sind) und Lazzi (Anlagen von komischen Zwischennummern) bilden einen klar umrissenen Rahmen, den die Komödianten extemporierend füllen. In historischer Sicht steht S im Kontext der deutschen Wanderbühnen in enger Verbindung mit der komischen Person. Die Stücke werden von den → Ensembles zwar nicht zur Gänze extemporiert (vgl. Asper 6), aber der Komiker der Haupt- und Staatsaktion tritt in der Funktion des Kurzweilers aus der theatralischen Illusion und kommentiert aus dem S die Handlung. Festgeschriebene → Dialoge und Extempore ergänzen sich in (handlungsfremden), kurzen, variationsreichen Intermezzi, meist mit erotisch-obszönem Inhalt (vgl. Müller 115). Der Reformer Johann Christoph Gottsched tritt in der Mitte des 18. Jhs. für eine ästhetischethische Neuorientierung des deutschen Theaters ein, in der die S-komödie keinen Platz mehr hat. Nach dem Tod Joseph Stranitzkys (1726), dem Erfinder der Hanswurst-Gestalt, erlebt die Wiener S-burleske unter Gottfried Prehauser und Johann Josef Felix von Kurz ihre Blütezeit. Der von Gottsched begonnene ,HanswurstStreit‘, der sich auch auf Wien ausdehnt, zielt auf die Abschaffung des S-theaters. 1770 wird in Wien unter dem Zensor Sonnenfels ein Extemporierverbot erlassen (vgl. Hein 22).
Wird das Spiel aus dem S nicht verkürzt auf ein Trainingsmittel, durchbricht diese Theaterform zwangsläufig auch heute noch Grenzen. S bzw. → Improvisation liegt abseits des Genormten: „Sie riecht nach dem Exotischen, dem Unerwarteten, dem verführerisch Illegalen oder Unmoralischen. Kein Wunder daher, dass man ihr so oft mit Misstrauen und/oder Denunziation begegnet.“ (Walden 15)
S-spiel ist heute in einem methodischen Ansatz der thp Arbeit als Widerstand gegen eine Normierung der Ausdrucksmittel begreifbar. S will sich nicht auf vorgegebene Texte verlassen, sondern konzentriert sich auf im Verlauf des Spiels freiwerdende Inspiration. Dadurch wird S offener für das Risiko, es ist abhängig von der Kreativität und der Spontaneität seiner SpielerInnen. Eine weitere Voraussetzung für ein Gelingen des S-spiels ist die Inspiration: „Ich konzentriere mich [im Schauspielunterricht, d. Vfn.] auf Beziehungen zwischen Fremden und darauf, die Vorstellungskraft zweier Menschen so zu verbinden, dass sie gesteigert und nicht geschmälert wird.“ (Johnstone 39) Der Einsatz des ganzen künstlerischen und persönlichen Vokabulars und die Vermeidung von Kontrolle (d. h. sich in Gefahr begeben, öffentlich etwas zu riskieren) lässt die Spielenden entdecken, „warum dieses vierhundert Jahre alte Relikt seine Kraft behalten hat, warum es gegenwärtig bleibt“ (Walden 17). Ausgeprägtes Gruppenbewusstsein (für die Mitspieler zu arbeiten) und die Gewissheit, nicht fehlerlos sein zu müssen, macht den Gegensatz der Auffassung zum auf Konkurrenz beruhenden Spiel deutlich. Keith Johnstone entwickelt Ende der 1950er Jahre aus einem besonderen Improvisationsstil die, auch im deutschsprachigen Raum populär gewordenen, sog. ,theatre sports‘ (vgl. Gohlke 32).
S, auf der historischen (Wander-)Bühne professionellen SpielerInnen vorbehalten, steht heute in einem neuen gesellschaftsrelevanten thp Kontext und hat so einen Bedeutungswandel durchgemacht: Festgelegter Handlungsablauf, stark typisierte Rollen und ein Repertoire stehender komischer Aktionen (wie ehemals im S-spiel der Commedia dell’Arte gebräuchlich) stehen im Gegensatz zu einem gegenwärtigen thp Ansatz. Elisabeth Scherf nutzte die methodischen Möglichkeiten des S im → Schultheater (vgl. Scherf). Ohne textliche Vorgaben und solche zum Spielverlauf werden spielerische Freiräume erwirkt. Sie verfolgte das pädagogische Ziel, über die Entwicklung einer gestischmimischen Gestaltungsvielfalt, über die Sensibilisierung der Sinne und den Umgang mit Sprache zum Theaterspiel hinzuführen. Ihr Grundkonzept betont den Prozesscharakter des S, das Fehlen von Bewertung schauspielerischer Einzelleistung, die Notwendigkeit von Solidarität. Den Spielenden die Führung zu überlassen, als Spielleiterin genau zu beobachten, inhaltliche, räumliche und personelle Strukturierungshilfen anzubieten und in der Themenvorgabe sich an Konflikten zu orientieren, lässt diese zu einem soziodramatischen (,Dramatisierung gesellschaftlicher Verhältnisse anhand konkreter Erfahrung Einzelner‘; ebd. 111) S-spiel gelangen, das erlaubt, die Lebensverhältnisse spielend zu reproduzieren und umzugestalten.
Asper, Helmut G.: Hanswurst. Studien zum Lustigmacher auf dem deutschen Theater im 17. und 18. Jahrhundert. Emsdetten 1980; Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in 10 Bdn., Bd. 8. Mannheim u. a. 1999; Gohlke, Jörg: Theatersport? Impro? Improvisationstheater? In: Korrespondenzen, 2001, H. 39; Hein, Jürgen: Das Wiener Volkstheater. Darmstadt 1997; Hille, Hermann H.: Improvisationstheater. In: Spiel und Theater, 1993/94, H. 151; Johnstone, Keith: Improvisation und Theater. Berlin 2000; Müller [Eberhart], Sieglinde: Die Haupt- und Staatsaktion. Untersuchung einer Theatergattung am Beispiel der Wanderbühnenhandschrift ,Der stumme Printz Atis‘ unter Berücksichtigung der musikdramatischen Vorlagen und Edition der bisher unveröffentlichten Handschrift. Dissertation. Innsbruck 1990; Scherf, Elisabeth: Aus dem Stegreif. Soziodramatische Spiele mit Arbeiterkindern. In: Kursbuch 34. Hg. v. Hans Magnus Enzensberger u. Karl Markus Michel. Berlin 1973; Strehler, Giorgio: Für ein menschlicheres Theater. Geschriebene, gesprochene und verwirklichte Gedanken. Hg. v. Sinah Kessler. Frankfurt a. M. 1977; Walden, Stanley: Ein paar Gedanken über Improvisation – George Tabori. Ich wollte meine Tochter läge tot zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren: Improvisationen über Shakespeares ,Shylock‘. Hg. v. Andrea Welker u. Tina Berger. München 1979.
SIEGLINDE EBERHART
→ Ästhetische Bildung – Karneval – Märchen – Playback Theatre – Theatralität – Volkstheater – ZuschauSpieler