Theater der Unterdrückten
Der Brasilianer Augusto Boal, Begründer des TdU, ging 1971 ins Exil nach Buenos Aires (Argentinien). Dort entwickelte er (subversive) Techniken des politischen → Volkstheaters, mit deren rudimentären Formen er zwar schon in Brasilien gearbeitet hatte, die er aber nun immer gezielter einsetzte, systematisierte und theoretisch-ideologisch untermauerte (vgl. → Boal 1977), z. B. das → Unsichtbare Theater (port. Teatro Invisível). Von seinem argentinischen Exil aus arbeitete er in vielen Ländern Lateinamerikas. So übernahm er 1973 in Lima (Peru) bei der Alphabetisierungskampagne ALFIN (Operación de Alfabetización Integral), die sich an der Pädagogik seines Landsmanns Paulo Freire orientierte, den Auftrag, in der Sprache des Theaters zu alphabetisieren. Wie prägend diese Arbeit war, zeigt, dass die Benennung von Boals Theater auf Freires Pädagogik der Unterdrückten (port. Pedagogia do Oprimido) zurückgeht. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Lissabon (Portugal) lebte Boal von 1978 bis 1986 in Paris, wo er das erste Centre de Théâtre de l’Opprimé (CTO) gründete (weitere sollten folgen) und von wo aus er bei Theaterfestivals in ganz Europa seine Theatertechniken vorstellte und in der Workshop-Euphorie der 1970er/80er Jahre einen regelrechten Boal-Boom auslöste. 1986 kehrte Boal nach Brasilien in seine Heimatstadt Rio de Janeiro zurück. Hier gründete er das Centro do Teatro do Oprimido (CTO), engagierte sich für die brasilianische Arbeiterpartei (PT), für die er als Abgeordneter in das Stadtparlament von Rio de Janeiro einzog und entwickelte das → Legislative Theater (port. Teatro Legislativo), welches mit den Techniken des TdU u. a. Gesetzesvorlagen zum Wohl und Schutz des Menschen, vor allem sog. mehrheitlicher Minderheiten, szenisch erarbeitet und ins Parlament einbringt oder ihre Umsetzung theatralisch hinterfragt.
Boal ist auch einer der bekanntesten brasilianischen Theaterautoren. Seine Stücke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt (u. a. Revolução na América do Sul, dt. Revolution auf südamerikanisch; Histórias da nuestra América, dt. Geschichten aus unserem Amerika). Sein Exilstück Murro em ponta de faca (dt. Mit der Faust ins offene Messer) erlebte in Deutschland über dreißig Inszenierungen.
Retrospektiv klassifiziert Boal seine gesamte Theaterarbeit, auch die als Regisseur und Dramatiker am Teatro de Arena, als TdU, vom Fotorealismus der späten 1950er Jahre, in der die Wirklichkeit der Slumbewohner, Arbeitslosigkeit, soziales Elend thematisiert wurden, bis hin zu den Polit-Musicals der 1960er Jahre, z. B. Arena conta Zumbi (dt. Arena erzählt Zumbi), die Geschichte des Negersklaven Zumbi, der im 17. Jh. die freie Negerrepublik Palmares gegründet hatte, die sich mehr als 60 Jahre gegen alle Unterwerfungsversuche durch die portugiesischen Kolonialherren behauptete. Der Versuch, die für den Inhalt adäquaten Darstellungsmittel zu finden, bedeutete für das Teatro de Arena in der ästhetischen Praxis eine Absage an das alte Theater mit all seinen Regeln und Vorschriften. Das implizierte auch die Abschaffung des ,Privateigentums an der Rolle‘. Die Schranken zwischen Protagonist und Chor fielen, alle Schauspieler spielten alle Rollen. Wichtiger allerdings war die Annäherung an den Zuschauer. Dies versuchte Boal durch die Einführung eines Jokers (port. Coringa) zu erreichen. Er stand den Zuschauern so nahe wie den Personen im Stück, er war der Chor der griechischen Tragödie, der das Verhalten des Protagonisten analysierte, er war Erzähler und Conférencier. Er sollte Zeitgenosse und Nachbar sein. Er konnte die Handlung unterbrechen, Szenen wiederholen lassen, die Zuschauer nach ihrer Meinung fragen. Hier liegen die Wurzeln des → Forumtheaters (port. Teatro Foro).
Schon damals hatte das → Ensemble viele Abstecher in die Stadtrandgebiete und ins Hinterland unternommen, um die Betroffenen selbst zu erreichen – Anfang der 1960er Jahre getragen von der großen Volkskulturbewegung, den Centros Populares de Cultura der Nationalen Studentenvereingung UNE. Man berief sich auf Brecht, der gefordert hatte, das ,Theater des wissenschaftlichen Zeitalters‘ müsse in die ,Vorstädte‘ getragen werden. Doch beschränkte sich Boal nicht mehr bloß auf ,Vorspielen‘, immer häufiger wurden mit Bauern und Arbeitern Stücke gemeinsam erarbeitet und gespielt. Man kann Boals Poetik des Theaters der Unterdrückten (port. Poética do Teatro do Oprimido) als konsequente Fortsetzung von Brechts Poetik ansehen. Brecht hat zwar vom ,eingreifenden Theater‘ gesprochen, aber ein unmittelbares Eingreifen des Zuschauers hat er kaum praktiziert. Hier setzt Boal an. Brecht begnüge sich damit, dem Zuschauer zur Reflexion zu verhelfen, während er, Boal, den Zuschauer zur Aktion auffordere. Das TdU überschreitet die Grenzen von Fiktion und Realität, von Bühne und Zuschauerraum, verlängert das Theater in die Realität als Probe auf die Realität, als Zukunftsprobe. So gibt es im Boalschen Theater nicht mehr die Trennung zwischen Zuschauer und Schauspieler, sondern nur noch Zuschauer-Schauspieler: „Zuschauer, was für ein häßliches Wort. Zuschauer sein heißt unterdrückt sein! Im Theater wie im Leben!“ Ziel ist, den politisch entmündigten Menschen zum Handeln, zum Eingreifen zu bewegen, zum actor zu machen, und darunter versteht Boal nicht nur den Schauspieler im Theater, sondern den Akteur im Leben. „Des Menschen Schicksal ist der Mensch“ – diesen Satz Brechts zitiert Boal immer wieder, er gewinnt bei ihm Appellcharakter. So wird Brechts Forderung nach der ,Umwälzung der Gesellschaft‘ bei Boal zum programmatischen Kampfaufruf. Die Anfänge des TdU sind im Zeichen des lateinamerikanischen Befreiungskampfes zu verstehen, Methode und Techniken sind für Boal jedoch übertragbar und anwendbar in allen Gesellschaftssystemen.
Wesentliche Prinzipien verbinden Boal auch mit der pädagogischen Arbeit seines Landsmanns Paulo Freire. Für Freire waren Erziehung und Bildung herkömmlicher Art „Abrichtung auf die Welt, so wie sie ist“ (Thorau 1982, 60). Seiner Kritik an der ,depositären‘ Erziehung, die in den Menschen Kulturkonserven ablagere, ja sie selbst zu Kulturkonserven mache, entspricht Boals Kritik am bürgerlichen Theater und seinen Institutionen. Boal will den Unterdrückten vom Objekt zum Subjekt machen, ist sich darin mit Freire einig: „Der Begriff des Subjekts bezeichnet den, der wissend handelt, im Gegensatz zum Objekt, an dem gehandelt wird.“ (Thorau 1982, 63) Oberstes Prinzip von Freires Pädagogik wie für Boals Theater ist die Bewusstmachung (port. conscientização). Diese bedeutet für Boal die Einheit von Reflexion und Aktion. Boals Theater ist in Analogie zu Freires Erziehung der Befreiung ein Theater, das mit den Unterdrückten und nicht für sie gestaltet werden müsse. Boal will dem Volk das Theater zurückgeben, ihm, in marxistischer Terminologie, die ,Produktionsmittel des Theaters übereignen‘. Die Eroberung des Theaters beginnt mit der Bewusstmachung der sozialen und beruflichen Deformationen, der Verkümmerung, Automatisierung, Mechanisierung von Bewegungsabläufen. Es folgt die Wiederaneignung der eigenen expressiven Möglichkeiten, zunächst nonverbal ( → Statuentheater, port. Teatro Imagem), dann verbal. Dabei kommt der spielerischemanzipatorischen Komponente große Bedeutung zu, denn Theater soll Spaß machen. Zudem geht es Boal nicht um Akrobatik und schauspielerische Perfektion. Theater könne grundsätzlich jeder machen, es bestünden weder Klassenund Rassen-, noch Konfessions-, Altersoder Geschlechtergrenzen. In der Simultanen Dramaturgie (port. dramaturgia simultânea) werden die Noch-nicht-Schauspieler zu Dramatikern ihrer eigenen Geschichten, die von Schauspielern improvisierend dargestellt werden, wobei die ,Dramatiker‘ aber jederzeit korrigierend eingreifen können. Doch geht es im TdU nicht um → ,Theatersport‘ im Sinne von Keith → Jonestone, sondern immer um Veränderung einer für den Protagonisten negativen in eine positive Situation (ausgehend von dieser Technik entwickelte Jonathan Fox sein → Playback Theatre).
Im Forumtheater und der Vorstufe Selbstbehauptung (port. Quebra de Repressão) wird der Autor gleichzeitig zum Regisseur und Hauptdarsteller und bestimmt den Verlauf seiner Geschichte, um in einem nächsten Schritt aus dem Theater hinauszugehen, um die Realität zu gestalten und zu verändern. Eines der provokativsten Kapitel aus Boals theoretischer und praktischer Theaterarbeit ist das → Unsichtbare Theater (port. Teatro Invisível), das den politisch und schauspieltechnisch (selbst-)bewussten Akteur voraussetzt. In Europa vollzog sich der Wandel von Boals TdU unter dem Einfluss des Zeitgeistes (u. a. durch Morenos → Psychodrama; vgl. Thorau 1991) hin zu einer thp Methode zur Stärkung des allseitig entwickelten Individuums. Standen in Lateinamerika staatliche Gewalt, Folter und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Missachtung der Menschenrechte im Vordergrund, so sind es in Europa die verinnerlichte Gewalt (,Der Polizist im Kopf‘, frz. Le flic dans la tête) und die ganzheitliche Verwirklichung des Menschen (→ ,Regenbogen der Wünsche‘, port. arco iris do desejo). Bekannte Techniken wurden dem TdU anverwandelt (u. a. Elemente bioenergetischer Körperarbeit, → Feldenkrais’ ,Aufrechter Gang‘, nonverbale Körperkontaktübungen aus dem Encounter und Sensitivity-Training, Psychodramaund Gestalttechniken). Da Boal sein Theater ohne normative Regeln als work in progress versteht, arbeitet er einzelne Kapitel seiner theoretischen Schriften auch immer wieder um, erweitert sie, ändert die Terminologie. Das macht den Umgang mit seinen Schriften manchmal nicht einfach. Inhaltlich, aber auch formal, hat sich das TdU auf seinem Weg von Lateinamerika nach Europa und wieder zurück verändert. War Boals Theaterarbeit in Lateinamerika noch geprägt vom politisch-theoretischen Diskurs des Befreiungskampfes der 1960er Jahre, so rückten mit der europäischen Erfahrung immer häufiger und unter Aneignung soziopsychologischer Diskurse Umwelt, Geschlecht, Ethnien, Familie und Arbeit ins Zentrum von Reflexion und Theater-Praxis, deren Maxime man heute mit Jacob Levy Moreno so beschreiben könnte: mit ,Mikrorevolutionen die Makrorevolutionen der Zukunft‘ vorbereiten. Zurück in Brasilien widmen sich Boal und seine vielen Multiplikatoren – auch in Zusammenarbeit mit der ,Kirche der Befreiung‘ – vor allem der politischen und staatsbürgerlichen Aufklärung und (Selbst-)Bewusstseinsbildung von Slumbewohnern, Straßenkindern und Landlosen.
Boal, Augusto: Técnicas latinoamericanas de teatro popular. Uma revolução copernicana ao contrário. Lisboa 1977; Ders.: Theater der Unterdrückten. Hg. u. übersetzt v. Marina Spinu u. Henry Thorau. Frankfurt a. M. 1979; Ders.: Stop, c’est magique! Rio de Janeiro 1980; Ders.: Mit der Faust ins offene Messer. Frankfurt a. M. 1981; Ders.: Arena erzählt Zumbi. Wien 1985; Ders.: Theater der Unterdrückten. Übungen und Spiele für Schauspieler und Nicht-Schauspieler. Hg. u. übersetzt v. Marina Spinu u. Henry Thorau. Frankfurt a. M. 1989; Ders.: Teatro Legislativo. Rio de Janeiro 1998; Ders.: Der Regenbogen der Wünsche. Methoden aus Theater und Therapie. Hg. u. bearb. v. Jürgen Weintz. Seelze 1999; Ders.: Hamlet e o filho do padeiro [Autobiographie]. Rio de Janeiro 2000; Feldhendler, Daniel: Psychodrama und Theater der Unterdrückten. Frankfurt 1987; Fox, Jonathan/Dauber, Heinrich (Hg.): Playbacktheater – wo Geschichten sich begegnen. Internationale Beiträge zur Theorie und Praxis des Playbacktheaters. Bad Heilbrunn 1999; Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Reinbek 1973; Moreno, Jacob Levy: Die Grundlagen der Soziometrie. Opladen 1974; Ruping, Bernd (Hg.): Gebraucht das Theater. Die Vorschläge Augusto Boals: Erfahrungen, Varianten, Kritik. Lingen, Remscheid 1991; Sala, Jo: Playback-Theater. Berlin 1998; Thorau, Henry: Das Unsichtbare Theater des Augusto Boal. In: Baumgarten, Michael/Schulz, Wilfried (Hg.): Die Freiheit wächst auf keinem Baum. Berlin 1979; Ders.: Augusto Boals Theater der Unterdrückten in Theorie und Praxis. Rheinfelden 1982; Ders.: Durch Millionen von Mikrorevolutionen die Makrorevolutionen der Zukunft vorbereiten. Augusto Boals Teatro do Oprimido (Theater der Unterdrückten) und Jacob Levy Morenos Psychodrama. In: Psychodrama, 1991, H. 1.
HENRY THORAU
→ Arbeitertheater – Lehrstück – Theaterarbeit aus Erfahrungen – Theaterarbeit in sozialen Feldern – Theatralisierung (von Lehr- und Lernprozessen) – Zielgruppe – Zukunftswerkstatt – ZuschauSpieler