Theaterexpedition
T, traditionsreich als Verfahren und Abenteuer verbunden mit den Namen → Artaud, → Barba, → Brecht, → Brook, → Grotowski und anderer, ist mehr als Gastspiel. T ist, mit Eugenio Barbas Wort, ,Tauschhandel‘: Das Theater nimmt Bilder, Atmosphäre, Materialien, Geschichte(n) und Personen des bereisten Ortes in sich auf und gibt sie am Ende verändert, verfremdet, bereichert in einer festlichen Aufführung an den Ort zurück.
T ist Einheit von Vorbereitung, Reise, → Recherche, Anknüpfung neuer Beziehungen, Produktion, Aufführung, Fest (gathering,→ Diskotheater) und Erinnerung: in pädagogischer Hinsicht eine nicht zu überschätzende Chance zum Erwerb grundlegender Kompetenzen der → Interaktion und Problemlösung und zugleich auch eine Chance zum interkulturellen → Lernen mit Brückenschlägen zur gezielten politischen Bildung.
Jeder Ort, ländlich oder städtisch, In- oder Ausland, Zentrum oder Peripherie der ,Zivilisation‘, taugt für eine Expedition. Im besten Fall aber bezieht sich die Wahl des bereisten Orts auf die Themen und die nature of the performance (vgl. Staniewski) der laufenden Produktion. Der Charakter der Produktion bestimmt dann die Aufmerksamkeiten der Recherchen: Die geographische, soziale und kulturelle Landschaft des bereisten Orts und die ,Landschaft des Textes‘ (vgl. → Maier) werden überblendet.
Das Theater verlässt den ihm kulturell zugewiesenen Raum und stellt sich in reale Umgebungen. Auf der Suche nach ungenutzten Theaterräumen, nach den ,Katakomben‘ im Sinne George Taboris, probt die → Gruppe an verschiedenen Orten in der Stadt, im Dorf, draußen im Umland. Jeder Raum, jede Begegnung, jede Alltagsszene kann im Sinne des ,dritten Theaters‘ (vgl. Barba) als Theater betrachtet werden und wird potenziell zum Anlass von ethnographischer Recherche, von Lernen und Spiel. Die Grenze zwischen Freizeit und Probe, zwischen Theater und Leben wird durchlässig: Die Probe wird permanent. Fundstücke – Requisiten, Kostüme, Text-, Bild- und Tondokumente – werden in die Produktion eingebaut. Die weiteren Aufführungen bewahren den genius loci der bereisten und bespielten Orte in Spiel und Bild auf. T ist – wie alle Kunst (vgl. → Dewey) – immer auch überraschendes Abenteuer und Entführung: an einen unbekannten ,dritten Ort‘, in eine verrückte, ,nichtlineare‘, mal stillstehende, mal rasende Zeit. Überraschungen erzwingen schnelles, bewegliches Reagieren. Praxis und Problemlösungen liegen zu einem großen Teil außerhalb der vorab aufstellbaren Pläne. Um so mehr Sorgfalt muss auf das Planbare, auf die Logistik verwandt werden. Die eigene Produktion, die Theatergruppe und ihre Mitglieder, ihre Alltagsnatur erscheinen sich selbst in fremdem Licht, Gruppe und AkteurInnen entdecken sich selbst als fremdes Terrain.Es lösen sich auf praktischem Wege die statischen Begriffe des ,Eigenen‘ und des ,Fremden‘ auf.
Das intensive Zusammenleben über Tage oder Wochen hin, der Wechsel von Zerstreuung und Konzentration, von reinem → Spaß und erschöpfender Arbeit mit nicht selten ,ekstatischem‘ Charakter machen die T zum Meilenstein, oft zum Wendepunkt, immer zum Merkzeichen in der Geschichte der Gruppe und der einzelnen AkteurInnen. Auf den ,Expeditionen ins Andere‘ (Gerhard Hess über ,Diskotheater Metropolis‘) entwickeln die AkteurInnen, im Erfolgsfall, ihren Zusammenhalt und ihre dialogische, bewegliche und offene Identität.
T im hier dargelegten methodischen Sinn für das Jugendtheater wurde vom ,Diskotheater Metropolis‘ seit 1997 in Kooperation mit seinen polnischen Partnern erarbeitet.
Barba, Eugenio: Jenseits der schwimmenden Inseln. Reinbek 1985; Brook, Peter: Wanderjahre. Schriften zu Theater, Film und Oper 1946–1987. Berlin 1989; Czertok, Horacio: Teatro Nucleo. Expeditionen zur Utopie. Frankfurt a. M. 2002; Dewey, John: Kunst als Erfahrung. Frankfurt a. M. 1988; Hardt, Ulrich: Die Expeditionen ,Gardzienice‘. Eine polnische Theaterwerkstatt auf der Suche nach einer ,eigenen‘ Sprache. Theaterwissenschaftliche Magisterarbeit. Berlin 1990; Hardt, Ulrich/Kreutzer, Michael: Diskotheater Metropolis. Sonderprojekt am JugendKunst- und Kulturzentrum Schlesische 27 in Berlin-Kreuzberg. In: Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hg.): Kulturarbeit und Armut. Konzepte und Ideen für die kulturelle Bildung in sozialen Brennpunkten und mit benachteiligten jungen Menschen. Tagungsdokumentation. Remscheid 2000; Hentig, Hartmut von: Bildung. Ein Essay. Weinheim, Basel 1999; Hess, Gerhard: Expeditionen ins Andere. In: SpielArt, 1999, H. 14; Kurzenberger, Hajo/Matzke, Frank (Hg.): Interkulturelles Theater und Theaterpädagogik. Dokumentation der Tagung und des Festivals an der Universität Hildesheim und in der Kulturfabrik Löske. November 1993. Hildesheim 1994; Maier, Scotch: Text als weitläufige Landschaft. In: Ders.: Bemerkungen zur Theaterarbeit mit Jugendlichen. Berlin 1995; Staniewski, Wlodzimierz: For a New Environment of the Theatre. In: The Theatre in Poland, 1988, H. 1.
ULRICH HARDT / FRANZ HÖDL / MICHAEL KREUTZER
→ Dialog – Theaterarbeit aus Erfahrungen