Theaterhistographie

T bedeutet einmal Historie des Theaters, d. h. die Gesamtheit und Abfolge aller Theaterereignisse; zum anderen meint er Historiographie des Theaters, also die geordnete und interpretierende Aufzeichnung dieser Ereignisse.

Vorformen der Historiographie des Theaters finden sich in Europa seit dem Hellenismus. Den Ausgaben griechisch-antiker Tragödien waren sogenannte hypothéseis vorangestellt, die knappe Informationen über Inhalt, Geschichte und Aufführung der edierten Stücke gaben. Für die Zeit von der Antike bis zur Aufklärung existiert T jedoch nur im editorischen oder poetologisch-dramaturgischen Kontext. Schriften wie die Poetik des Aristoteles (zw. 367–347 v.Chr.) oder Gotthold Ephraim Lessings Hamburgische Dramaturgie von 1767–1769 lassen sich zwar aus der Sicht des neuzeitlich rekapitulierenden Betrachters auch als historische Dokumentationen lesen. Ihre aus der Analyse zeitgenössischer oder vergangener Theaterereignisse entwickelten Theoreme dienen jedoch der Begründung und Systematisierung theatraler Normentwürfe. T als historische Disziplin, die nicht normativ über ihren zu untersuchenden Gegenstand hinaus will, entwickelt sich erst im 19. Jh. mit der Ausbildung der positiven Einzelwissenschaften. Dort ist sie zunächst innerhalb von Philologie und Altertumswissenschaft beheimatet und sehr an klassischen Themen wie ,Antikes Theater‘ oder ,Shakespeare‘ orientiert. Als eigenständige historische Teildisziplin existiert die T erst mit der Gründung des ersten theaterwissenschaftlichen Instituts 1923 in Berlin.

T hat Theaterhistorie zum Gegenstand. Die Theaterhistorie besteht in einer Fülle von Phänomengruppen wie Literaturtheater, Tanztheater, Oper, → Pantomime, Dramen, Dramatiker, Darsteller, Regisseure, → Inszenierungen, Aufführungen, Theatertheorien, → Bühnen, Kostüme, Rezipienten, Theaterkritik usw. Diese Phänomenkomplexe müssen von der T verstanden und geordnet werden, auch in Ergänzung mit anderen Disziplinen wie Philologie, Kultur-, Kunstwissenschaft oder Soziologie. Probleme bereitet dabei nicht nur die Mannigfaltigkeit des Materials, sondern auch eine Analogie der T zur allgemeinen Historiographie: Beide verfügen ausschließlich über Dokumente, nicht über Monumente. Die T hat es mit Theaterereignissen, nicht mit fixierbaren und tradierbaren Artefakten zu tun (vgl. Fischer-Lichte 1993, 11). Der Gegenstand des Theaterhistorikers existiert also „streng genommen […] gar nicht. Die Aufführung, verstanden als ein Prozess, der sich zwischen mindestens zwei leibhaftig anwesenden Personen abspielt, verschwindet mit ihren Teilnehmern.“ (Simhandl 9) Die Aufgabe totalisierender und teleologischer Geschichtsmodelle, also übergeordneter und sinnstiftender Auffassungen vom Gang der Geschichte, macht darüber hinaus jeden Versuch einer Darstellung von T „zu einem Wagnis“ (Brauneck XIX). Erweiterungen der Kunstform und des Begriffs

,Theater‘ im → Happening oder im rhetorischen Gebrauch oder durch die ThP – dort wurde das Begriffsfeld ,Theater‘ u. a. um die nicht dokumentierbare Fülle nicht öffentlichen Experimentierens erweitert – führen letztlich gar zum „Abschied […] von der Fiktion, dass ein gewisser Konsens gegeben sei hinsichtlich des Objektes [und des Begriffes] ‚Theater‘“ (Fischer-Lichte 1993, 4).

Ungeachtet dieser Aporien existiert dennoch eine Vielzahl von Versuchen, T umfassend und allgemein darzustellen. Neben nationalen oder europäischen T gibt es selbst Darstellungen von Welt-T (vgl. Gregor; Berthold; Gronemeyer). Allgemeine T sind jedoch meist in Umgehung der angeführten Schwierigkeiten an den historisch etablierten, im literarischen Stadttheater dokumentierten Theaterereignissen orientiert (vgl. Fischer-Lichte 1993, 7). Die Verbindung von Schauspielführer und T (vgl. Hensel) ist symptomatisch für eine desiderat verfahrende T. Gattungsspezifische (Geschichte des dramatischen Theaters, des → Puppentheaters usw.), systematische (Sittengeschichte des Theaters, Rezeptionsgeschichte), personal orientierte (Theater Max Reinhardts, Piscatorbühne) oder epochenspezifische Untersuchungen (Geschichte des Antiken Theaters, Barocktheater) kommen der Notwendigkeit von „Partialität als Bedingung der Möglichkeit von Theatergeschichtsschreibung“ (FischerLichte 1993, 8) zwar näher, indem sie aus einem als bekannt vorausgesetzten Untersuchungsfeld ,Theater‘ einen partikularen Bereich sondieren. Den  Begriff ,Theater‘ selbst unterziehen sie allerdings in der Regel keiner Inhalt und Methode der Untersuchung gerierenden Definition.

T enthebt sich ihrer Aporien, wenn sie neben den Bedingungen der Möglichkeit von Theatergeschichtsschreibung auch auf die Bedingungen der Möglichkeit von Theater rekurriert. Wie die allgemeine Geschichte, so beruht auch die „Schauspielkunst auf jenem existentiellen Gebundensein an ‚Körper-Sein und Körper-Haben, mit dem wir Menschen fertig werden müssen, wenn uns das Leben gelingen soll‘“ (Plessner zit. n. Brauneck XVIII). Dass ein „jeder ist, aber sich nicht hat, genauer gesagt, sich nur im Umweg über andere und anderes als ein Jemand hat“ (Plessner 72ff.) konstituiert fernerhin die historische menschliche Existenz als handelnd und kommunikativ. Der Umweg zum Selbst über Andere und als ein Anderer entspricht nun genau der Struktur theatralen Handelns. Theater  und Geschichte sind insofern analog; im Theater wird sich immer ein affirmativer oder distinktiver Reflex auf die reale und objektive Geschichte aussprechen. Insofern also die historische Menschheit „in einem Verfasser und Schausteller ihres eigenen Dramas“ (Marx 135) ist, so sind auch die, welche Theater spielen, gleichermaßen „Inbegriff und die kurzen Chroniken der Zeit“ (Shakespeare 411). Die anthropologische Konstituierung des historischen Menschen als Handelnder und Kommunizierender restringiert analog die T auf die Betrachtung der Geschichte der mímesis von Handlung und → Kommunikation. Diese Restriktion öffnet alle Bereiche des Begriffsfeldes ,Theater‘ einer gleichwertigen Betrachtung. Mit ihr lassen sich weitere methodische und systematische Eingrenzungen gewinnen, die das Phänomenfeld ,Theater‘ einer (nicht einen bestimmten Kulturkanon voraussetzenden) historischen Untersuchung öffnen, und wie sie z. B. im Zusammenhang der semiologischen Analyse des Theatersystems schon vorliegt (vgl. Fischer-Lichte 1983). Den Verengungen der Wahrnehmung eines auf die Institution Theater eingeschränkten Theaterbegriffs entgeht eine T mindestens seit den 1970er Jahren (vgl. Fiebach), die theatral relevante Tätigkeiten und Haltungen in einem weiten Sinne in Geschichte und Gegenwart untersucht und  u. a. → Theatralität, → Rituale, → Performance als legitimen und integralen Bestandteil der T begreift.

Dem praktizierenden Theaterpädagogen bietet die T eine Fülle von Mustern, Modellen, Bildern und Spielvarianten zum Fundus eigener Gestaltung. Für die ThP ist die T dort von übergeordnetem Interesse, wo sie sich speziell mit der Geschichte des Theaters als Medium ästhetischer Bildung (Persönlichkeitsbildung von Individuen oder Gruppen) befasst. Im Rahmen systematischer Einzeluntersuchungen teils dargelegt (Hentschel), gibt es eine umfassende T für Theaterpädagogen in diesem Sinne bislang nicht. In ihr ginge es weniger um die téchne (Praxis, Technik) von Theaterspiel (so Rellstab) als um seine dynamis (Fähigkeit, Vermögen, Veränderbarkeit).

Berthold, Margot: Weltgeschichte des Theaters. Stuttgart 1968; Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. 4 Bde. Stuttgart, Weimar seit 1993; Fiebach, Joachim/Münz, Rudolf: Thesen zu theoretisch-methodologischen Fragen der Theatergeschichtsschreibung. In: Wiss. Zs. der Humboldt-Universität zu Berlin, 1974, H. 3–4; Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. 3 Bde. Tübingen 1983; Dies.: Kurze Geschichte des deutschen Theaters. Tübingen, Basel 1993; Gregor, Joseph: Weltgeschichte  des  Theaters.  Zürich  1933;  Gronemeyer, Andrea: Theater. Köln 1995; Hensel, Georg: Spielplan. Der Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart. 2 Bde. München 1992; Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung. Über einen Beitrag produktiven künstlerischen Gestaltens zur Selbstbildung. Weinheim 1996; Marx, Karl: Das Elend der Philosophie. In: Ders./Engels, Friedrich: Werke. Berlin 1958; Plessner, Helmuth: Conditio Humana. In: Mann, Golo/Heuß, Alfred (Hg.): Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Bd. 1. Berlin, Frankfurt. 1991; Rellstab, Felix: Theorien des Theaterspielens. In: Handbuch Theaterspielen, Bd. 3. Wädenswil 1998; Shakespeare, William: Hamlet. In: Fried, Erich: Shakespeare. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1995; Simhandl, Peter: Theatergeschichte in einem Band. Berlin 1996.

MARKUS ECKSTEIN

Kunsttheater  –  Mimesis  –  Rhetorik  –  Theater  als öffentliche Institution – Theaterwissenschaft