Theaterwissenschaft
So alt das Theater ist, so jung ist die T als eigenständige Wissenschaft. Erste theaterwissenschaftliche Arbeiten entstanden Ende des 19. Jhs. in der Literaturwissenschaft (Litzmann, Mundt, Prutz). Zeitgleich konstituiert sich das Fach an den Universitäten. Seit 1896 wird T an der Sorbonne gelehrt. An zahlreichen amerikanischen Universitäten werden sog. Drama Departements eingerichtet. George Pierce Baker hält 1895 erste Vorlesungen zur T in Harvard ab. 1901 beginnt der Berliner Germanist Max Herrmann mit theaterwissenschaftlichen Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelms-Universität, wo er 1923 das erste deutsche theaterwissenschaftliche Institut gründet. Weitere Gründungen folgen in München durch Artur Kutscher und Köln durch Carl Niessen. In engem Zusammenhang mit der Etablierung der Universitätsdisziplin stand die Einrichtung von Theatersammlungen und Theatergeschichtlichen Gesellschaften, so 1901 die Société de l’histoire du théâtre in Paris oder 1902 die Gesellschaft für Theatergeschichte in Berlin. Es folgten auf internationaler Ebene 1945 die International Society for Theatre Research sowie 1948 das Internationale Theaterinstitut (ITI) als Unterorganisation der UNESCO.
Die Anfänge der T sind durch Abgrenzungen und Legitimationsbestrebungen gegenüber den Literaturwissenschaften geprägt. Während für Herrmann der Schwerpunkt theaterwissenschaftlicher Forschung auf der europäischen Theatergeschichte lag, suchten Kutscher und Niessen eine ,Urzelle des Theaters‘ im ,Mimus‘ (vgl. Kutscher 7) zu bestimmen. Diese Nähe von T und Ethnologie begünstigte eine Vereinnahmung der jungen Disziplin durch den Nationalsozialismus, der sich auch des von Niessen geprägten Begriffs des → ,Thingspiels‘ bediente. Diese Verflechtung von Forschung und Parteiideologie wurde nach dem Krieg nicht aufgearbeitet. NSDAP-Mitglieder wie Niessen oder auch Heinz Kindermann in Wien blieben zum großen Teil in ihren Lehrstühlen und prägten das Bild der T bis in die späten 1960er Jahre. Erst dann kam es zu einer ideologiekritischen wie methodischen Reflexion des Fachs, die u. a. zu einer Öffnung gegenüber den neuen Medien Film und Fernsehen führte. Mit einer zweiten Welle von Institutsneugründungen in den 1980er Jahren und dem Zusammenschluss der Theaterwissenschaftler in der Gesellschaft für Theaterwissenschaft zeigt sich die zunehmende Etablierung des Fachs. Konträr zu dieser Expansion sehen sich in jüngster Zeit aufgrund hochschulpolitischer Umstrukturierungen vor allem kleine Institute gefährdet. Beispiel hierfür ist die Schließung des Magisterstudiengangs T an der Humboldt-Universität Berlin, dem ältesten deutschen Institut, seit dem Sommersemester 2001.
Die Forschungsgebiete der T lassen sich systematisch in eine historische T (Theatergeschichte, Inszenierungsgeschichte, Lokaltheatergeschichte, Geschichte der Theaterarchitektur, historische Entwicklung des Bühnenbilds und der Kostüme), eine analytische und systematische T (Theateranthropologie, Theatersoziologie, Theaterstrukturen, Schauspielformen, Aufführungsanalyse, → Rezeptionsforschung) und eine theoretische T (Theorie der Theaterformen, Methodologie der Theaterwissenschaft) einteilen. Dabei bleibt ihr Forschungsgegenstand nicht nur auf das Sprechtheater beschränkt, sondern umfasst ebenso Tanz, Ballett, Puppenspiel oder Musiktheater. Jede wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen Theater steht vor dem grundlegenden Problem, dass der eigentliche Gegenstand der T, die Aufführung, vergänglich ist. Während in den Anfängen der T dieses Problem nicht reflektiert und T vor allem als Erforschung der Theatergeschichte verstanden wurde, fand in den 1960er Jahren eine Akzentverschiebung von geistes- zu sozialwissenschaftlichen Fragestellungen statt, mit der auch die Aufführungsanalyse zentralen Stellenwert innerhalb der T erhielt. Vor allem die Semiotik, wie sie in den 1930er Jahren von der sog. Prager Schule entworfen wurde, beeinflusste Vertreter der französischsprachigen T wie Patrice Pavis und Anne Ubersfeld. Im deutschsprachigen Raum griff vor allem Erika Fischer Lichte mit ihrer Semiotik des Theaters das Konzept auf, die Aufführung unter textanalytischen Gesichtspunkten „als ein System der Bedeutungsproduktion“ (Fischer-Lichte 1990, 234) zu untersuchen. Um den Eindruck der Aufführung nachvollziehbar zu machen, entwickelten die Semiotiker teils komplexe Transkriptionssysteme, die allerdings auch die Grenzen des Anspruchs einer umfassenden Notation aufzeigen. Ein weiterer Forschungsgegenstand ist die Situation theatraler → Kommunikation. Manfred Wekwerth bestimmte den Zuschauer sogar zum ,primären Spieler‘ (Wekwerth 101). Dabei steht die Rezeptionsforschung vor dem Problem, wie die subjektiven Zuschauerreaktionen objektiv auszuwerten sind. Einzelne Ansätze wie Pavis’ Fragenkatalog der Inszenierungsanalyse dienen vor allem zur Systematisierung der Rezeptionseindrücke. Heute wird T als Hauptfach an deutschsprachigen Hochschulen in Berlin, Bern, Bochum, Erlangen, Frankfurt a. M., Köln, Leipzig, Mainz, München und Wien angeboten. An der Universität Bayreuth ist ein theaterwissenschaftlicher Studiengang mit besonderer Berücksichtigung des Musiktheaters eingerichtet. Nur zwei Institute, das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen und das Institut für Medien- und Theaterwissenschaft in Hildesheim, haben einen gleichgewichtigen Praxisanteil in ihrer Studienordnung. Das Hildesheimer Modell einer ,praktischen Theaterwissenschaft‘ (Kurzenberger 8) verknüpft den praktischen Studiumsanteil mit der wissenschaftlichen Reflexion des Theatermachens und -spielens. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Erforschung thp Fragestellungen, deren spezielle Gegenstände wie z. B. das → Kinder -und Jugendtheater sowohl in der Produktion wie auch der Rezeption reflektiert werden.
Mit den Begriffen→ Theatralität und Performativität wird seit den 1980er Jahren eine Erweiterung des Theaterbegriffes in der T betrieben. Erste, in diese Richtung gehende Forschungen wurden bereits in den 1970er Jahren von Joachim Fiebach und Rudolf Münz veröffentlicht (vgl. Fiebach u. a.). Indem der Alltag und seine Inszenierungen zum Gegenstand theaterwissenschaftlicher Forschung werden, öffnet sich die T den anderen Kulturwissenschaften. Ob die T durch die Erweiterung des Theaterbegriffs zu einer ,Schlüsseldisziplin‘ (Fischer-Lichte) wird, oder welche neuen Erkenntnisse und Methoden die Reflexion des spezifischen Verhältnisses von Theaterpraxis und T liefert, sind aktuelle Fragestellungen der T. Thp Fragestellungen finden bisher nur sehr zögerlich Eingang in die T, wie sich umgekehrt die ThP erst allmählich ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit bewusst wird und nach einem theaterwissenschaftlich fundierten Forschungsdesign sucht.
Balme, Christopher: Einführung in die Theaterwissenschaft. Berlin 1999; Fiebach, Hans-Joachim/Münz, Rudolf: Thesen zu theoretisch-methodologischen Fragen der Theatergeschichtsschreibung. In: Wiss. Zs. der Humboldt-Universität Berlin, 1974, H. 3–4; Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Tübingen 1983; Dies.: Die Zeichensprache des Theaters. In: Möhrmann, Renate (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung. Berlin 1990; Herrmann, Max: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance. Berlin 1914; Hiß, Guido: Der theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse. Berlin 1993; Klier, Helmar (Hg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum. Darmstadt 1981; Kurzenberger, Hajo (Hg.): Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text. Hildesheim 1998; Kutscher, Artur: Grundriß der Theaterwissenschaft. München 1949; Pavis, Patrice: Semiotik der Theaterrezeption. Tübingen 1988; Wekwerth, Manfred: Theater und Wissenschaft. Überlegungen für das Theater von heute und morgen. München 1974.
ANNEMARIE MATZKE
→ Geschichte der Pädagogik – ZuschauSpieler