Theatralisierung
T als methodischer Ansatz bedeutet, die Medialisierung menschlicher → Kommunikation nicht nur zu akzeptieren, sondern für die Ausdifferenzierung von Arbeitsweisen in Bildungsprozessen bewusst zu nutzen. Zusätzlich greift T den Befund auf, dass menschliches Lernen immer schon und vor dem begrifflichen Lernen funktional szenisch geschieht. Auch das intentionale Lehren und Lernen etwa durch Schulunterricht kennt das → Schuldrama oder die „Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts“ (vgl. Hausmann; für Hochschuldidaktik Bülow-Schramm; für religiöse Unterweisung Friedrich; Huizing). → Drama in Education und → Theatre in Education sind im angelsächsischen Erziehungssystem Ansätze, die sich auf pragmatistische Bildungsphilosophie (vgl. Apel) gründen. T hat den Vorzug, Analyse und Forschung mit Darstellung zu verbinden. T ist → Prozess und Produkt zugleich. Durch das Hospitieren in der Kunst (in verschiedenen Künsten) können Unschärfen und kognitive Zwischentöne sowie Emotionalität bearbeitet und zum Ausdruck gebracht werden. Durch kommunikative Einmischung entsteht namentlich durch das Kommunikationsmodell Theater die Möglichkeit direkter Rückkopplung. Das wird häufig als etwas sehr Positives unter (kulturpessimistischen) Pädagogen reklamiert – gewissermaßen als Kritik an der vermeintlich abstrakten, fernen, medialisierten Welt: Eine Nähe, Direktheit von Kommunikation wird gegen vermittelte Großkommunikationen ausgespielt. Realistischerweise sollte man von der geringen, doch intensiven Reichweite theatraler Aktionen erst einmal ausgehen, aber versuchen, die immer schon bekannte Maßlosigkeit und Integrationsfähigkeit des Theater-Ansatzes zu nutzen und dann andere → Medien, Techniken ins theatrale Verfahren aufnehmen. Indem dieses Denken praktiziert wird, kommt zum Kunsttheater-Ansatz eine weitere Dimension hinzu, nämlich die des GebrauchsTheaters (vgl. Ruping).
Ein Theatralitäts-Verständnis, das Theaterspiel, → Kunsttheater, Lebenstheater und die verschiedenen Varianten von Theater (auch das, was gegen Theater spricht und/oder mit ihm konkurriert) in eins sehen will, grundiert T theatersystematisch (vgl. Koch 2001). Der Zusammenhang mit den Künsten (vgl. Jank u.a.) führt zusätzlich auf etwas sehr Handwerkliches innerhalb von Lehr-Lernprozessen, die sich als T verstehen (wollen): Das (traditionelle) Wie des Machens steht dem (traditionellen) Was nicht mehr gegenüber, sondern ist als → Methodik ein Ganzes, ein Widerspruchsfeld. Und das korrespondiert mit Überlegungen zu Bildungs- und/oder Lehr-Lernprozessen, die namentlich das Selbststeuern und die Dimension des → Lebensbegleitenden Lernens in den Mittelpunkt stellen und integrieren wollen in den emotionalen, praktischen Haushalt eines Subjekts oder von Menschen in → Gruppen. Transferleistungen können/müssen erbracht und – theatral gesprochen – inszeniert und so lernend-lehrend gesichert werden. Auf immer neue Situationen immer neu eingehen zu können und dabei auch noch zu wissen, dass man ,man selbst‘ geblieben ist bzw. sein Selbst identitätsstiftend erweitert hat – das ist die emphatische Tätigkeitsbeschreibung, der Kontext von T von Lehr-Lernprozessen (vgl. Koch u. a.). Es geht um den Umgang mit Differenz und das Aushalten von Differenzerfahrung als Normalität (vgl. Kleve 1.a.).
T von Lehr-Lernprozessen geschieht als eine Verbindung von exemplarischem Lernen mit theatraler → Phantasie/theatraler Denkweise (vgl. Negt). Gegenstände, Thematiken, die für Lernende von alltäglicher Bedeutung sind, können in dieses Lehr-Lernverfahren eingebracht werden. Sie werden, wie das bei pädagogischen Prozessen generell ist, Bedeutungsverschiebungen erfahren. Dies noch deshalb, weil theatrales Lernen/Lehren in der Regel auch ein soziales, ein Gruppenlernen/-lehren ist. Der Prozess kann als ein pluralistisches Unternehmen verstanden werden – ein Pluralismus der Werte, der Methoden, der Emotionen, der Wünsche, der Techniken und eingebrachten Befähigungen. Eine gestaltete Vielfalt, eine Unübersichtlichkeit, eine wechselseitige Akzeptanz kann Transfermöglichkeiten bilden oder vorstrukturieren.
Häufig wird die Möglichkeit des sozialen Lernens in T-Arrangements nur oder vornehmlich auf die personalen Rollenübernahmen oder den Rollentausch im direkten Sinne bezogen. Zusätzlich aber ist zu akzentuieren, dass es um Wahrnehmungen und Nutzung der Rollen- und Funktionsvielfalt solcher Arrangements geht. Unterschiedliche Qualifikationen kommen ins Spiel, werden für das Gelingen des Ganzen benötigt. Es geschieht hier lebendige Arbeit.
Der brasilianische Theaterreformer Augusto → Boal hat seit den 1960/70er Jahren eine Liste verschiedener Gebrauchstheater-Ideen entfaltet und praktiziert, die es zu würdigen gilt, wenn es um die T von Lehr- und Lernprozessen geht. Er bringt zusätzlich von einer gewissen deutschen Borniertheit ab: Durch die historisch entstandene umfangreiche Kultur- und Kunstlandschaft der Stadttheater (nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine solche Theaterdichte) hat Deutschland generell ein Verständnis von Theater, das von dieser Stadt-Tradition her bestimmt ist. Boal hat sich nun unter den lateinamerikanischen, z. T. bildungs- und demokratiefernen Bedingungen gefragt, welche theatralen Befähigungen Menschen schon besitzen und wie daran, diese erweiternd, angeschlossen werden kann. Im Übrigen ist das, was Boal systematisch entwickelt und ausdifferenziert hat, so fremd einer anderen deutschen Theatertradition nicht: → Arbeitertheater Ende des 19. Jhs. hatten ähnliche Gedanken und eine ähnliche methodische Vielfalt. Es gab Spielweisen aus Kurzszenen, Sketches, Rezitation, Kollektivreferat, Song, Moritat, → Pantomime, Tanz, Lesebühnen (vgl. zum Lesetheater Schwendter). Auch die sog. Freie Szene des Theaters und manche Regisseure bzw. Theaterleiter und Stückeschreiber sind solchen Ansätzen verpflichtet. Man könnte im Angesicht dieser Tendenzen zusätzlich von ,performativen Künsten‘, von der ,Kunst der > Performance‘ sprechen, geht es doch darum, Potenzialitäten zu Aufführungen werden zu lassen – im vielseitigen Verständnis –, auch von alltagsweltlich ,sich aufführen‘, also „Energie für den öffentlichen Ausdruck“ (Sennett 355) zu gewinnen.
Apel, Karl-Otto: Der Denkweg von Charles S. Peirce. Frankfurt a. M. 1975; Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1989; Bülow-Schramm, Margret (Hg.): Theater mit der Lehre? Theater in die Lehre! Hamburg 1996; Friedrich, Marcus A.: Liturgische Körper. Stuttgart 2001; Hausmann, Gottfried: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts. Heidelberg 1959; Huizing, Klaas: Ästhetische Theologie, Bd. 2: Der inszenierte Mensch – eine Medienanthropologie. Stuttgart 2002; Jank, Birgit u. a. (Hg.): Ganz Aug’ und Ohr. Obertshausen 1994; Kleve, Heiko u. a.: Vom Umgang mit dem Unterschiedlichen. Berlin, Milow 2003; Koch, Gerd: Theater-Spiel als szenische Sozialforschung. In: Belgrad, Jürgen (Hg.): TheaterSpiel. Hohengehren 1997; Ders.: 10 fachdidaktische Lehren für ein (Unterrichts-)Fach Theater (nebst Widerworten von Marianne Streisand und Ulrike Hentschel). In: Korrespondenzen, 2001, H. 38; Ders. u. a.: Theatralisierung von Lehr-Lernprozessen. Berlin, Milow 1995; Negt, Oskar: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Frankfurt a. M. 1971; Ruping, Bernd (Hg.): Gebraucht das Theater. Lingen, Remscheid 1991; Schwendter, Rolf: Lesetheater. Wien, St. Peter 2002; Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a. M. 1983.
GERD KOCH
→ Authentizität – Darstellende Kommunikation – Didaktik – „Didaktisches Theater“ – Dramaturgie – Szenische Lesung – Theatralität