Theatre in Education
Dieser Begriff verweist auf den Brückenbau zwischen Theater und Pädagogik in englischsprachigen Ländern, insbesondere Großbritannien, wo 1965 am Belgrade Theatre in Coventry die erste TiE-Company mit dem Anspruch gegründet wurde, pädagogisch relevante Theaterangebote für ein junges (Schüler-)Publikum zu schaffen. Begünstigt durch das experimentierfreudige Klima der britischen Bildungsreform und der seit den 1960er Jahren wachsenden (u.a. von → Brecht und → Piscator stark geprägten) alternativen Theaterbewegung, wurde die damit begonnene engere Kooperation zwischen Theater und Schulen auch andernorts weiter intensiviert. Im Laufe der Zeit formierte sich eine breite TiE-Bewegung, deren vielfältige theoretische und praktische Ansätze insbesondere im Rahmen der Standing Conference of Young People’s Theatre kritisch diskutiert und seit den 1970er Jahren im SCYPT-Journal dokumentiert worden sind. Aufgrund von drastischen Veränderungen im britischen Erziehungswesen – die konservative Regierung hatte mit der Einführung eines National Curriculum eine Standardisierung des schulischen Lehrplans auf Kosten künstlerisch orientierter Fächer voran getrieben – verschlechterten sich seit etwa Mitte der 1980er Jahre zusehends die allgemeinen Arbeitsbedingungen für TiE-Companies. Zwar begann damit eine Krisenzeit für die britische TiE-Bewegung, aber auf dem Boden einer gut etablierten Infrastruktur erwies diese sich als improvisierund überlebensfähig. Die Tatsache, dass inzwischen an vielen Hochschulen spezifisch TiE-bezogene Kurse integraler Bestandteil von (postgradualen) Drama and Theatre Studies-Programmen sind, unterstreicht die wichtige Rolle des mit dem Kürzel TiE gefassten (kultur-)spezifischen Bildungskonzepts, von dem auch für die Theorie und Praxis der ThP in Deutschland und in anderen Ländern wichtige Impulse ausgegangen sind.
TiE-Companies setzen sich zumeist aus etwa 3 bis 6 professionellen Schauspielern zusammen, die oft auch ausgebildete Lehrer sind und gemeinsam mit dem Regisseur, manchmal auch unterstützt durch einen temporär engagierten Theaterschriftsteller, an der Entwicklung eines sog. ,TiE-Programms‘ für Schulen beteiligt sind.
Primäres Ziel eines solchen Programms ist in der Regel das Aufgreifen gesellschaftspolitisch und/oder fachlich relevanter Themen und deren Vermittlung durch: (1.) ein anspruchsvoll inszeniertes Theaterstück (dessen Handlungsverlauf bis zu einem gewissen Grade oft durch Schülerimpulse mit gesteuert wird); (2.) Workshops vor- bzw. nach der Aufführung; (3.) die Bereitstellung von didaktisch aufbereitetem Begleitmaterial, auf dessen Grundlage die in dem Theaterstück behandelte Thematik im Unterricht vorbzw. nachbereitet werden kann.
Die Programme zielen in einem sehr allgemeinen Sinne auf eine „Synthese zwischen den fesselnden künstlerischen Ausdrucksformen des Theaters und den möglicherweise ebenso fesselnden Elementen des Lernens und Lehrens, ohne dass jedoch der altbekannte ‚didaktische Zeigefinger‘ allzu hochgehoben wird“ (Müller-Black 73).
In dieser Weise haben britische und auch irische TiE-Companies in den letzten drei Jahrzehnten für Schulen in der jeweiligen Region, aber auch über regionale und nationale Grenzen hinaus, innovative Bildungsangebote geschaffen, damit den Unterricht in verschiedensten Fächern immens bereichert und insbesondere auch die Arbeit von Lehrern unterstützt, die das Schulfach Drama vertreten (vgl. in diesem Zusammenhang das von Schewe 1993 ausführlicher dargestellte TiE-komplementäre Bildungskonzept → Drama in Education).
Wie auch deutsche Schulen in der Vergangenheit von solchen TiE-Programmen profitieren konnten, insbesondere im Bereich Fremdsprachenvermittlung, lässt sich exemplarisch nachlesen bei Hanrahan u. a., in Schewe 1990 sowie in Schewe u. a. 1993.
Bennet, Stuart u. a. (Hg.): SCYPT-Journal (Standing Conference of Young People’s Theatre); Enkemann, Jürgen: Die Theatre-in-Education-Bewegung in Großbritannien. In: Englisch-Amerikanische Studien, 1984, H. 4; Hanrahan, Johnny/Schewe, Manfred: The Hidden Journey. An Irish Theatre-in-Education Project for German Schools. A Report on the 1984 Tour. In: ebd.; Jackson, Tony (Hg.): Learning through Theatre. New Perspectives on Theatre in Education. London, New York 1995; Müller-Black, Ali: Theatre in Education in Großbritannien. Geschichte und Perspektiven. In: Schewe (Hg.) 1990; Redington, Christine: Can Theatre Teach? Oxford 1983; Schewe, Manfred (Hg.): Drama und Theater in der Schule und für die Schule. Beiträge zur Einführung in die britische Drama- und Theaterpädagogik. Oldenburg 1990; Ders.: Fremdsprache inszenieren. Zur Fundierung einer dramapädagogischen Lehr- und Lernpraxis. Oldenburg 1993; Schewe, Manfred/Shaw, Peter (Hg.): Towards Drama as a Method in the Foreign Language Classroom. Frankfurt a. M., Bern, New York 1993.
MANFRED SCHEWE
→ Deutsch als Fremdsprache – Kinder- und Jugendtheater – Lebensbegleitendes Lernen – Schultheater – Theater im Klassenzimmer – Werkstatt