Theatrum Mundi

Die Vorstellung vom TM (lat. Theater der Welt, dt. auch Welttheater) existierte bereits in der Antike, erfuhr aber im 17. Jh. eine Universalisierung und gesamteuropäische Verbreitung. „Die Welt ist ein Theater. Großartiger kann man vielleicht von der Welt, aber schwerlich vom Theater denken. Kein Zeitalter hat sich mit dem Theater tiefer eingelassen als das Barock […]. Es hat das Theater zum vollständigen Abbild und zum vollständigen Sinnbild der Welt gemacht.“ (Alewyn 60) Mit dem Begriff TM hatte die Zeit einen Topos gefunden, mit dem sie ihr gesamtes Denken über die Welt zur Darstellung bringen konnte. ,Theater‘ und ,Welt‘ werden nun als grundsätzlich aufeinander bezogene Phänomene verstanden; nach Alewyn wird diese Affinität im barocken Theater auf komplexe Weise repräsentiert. Der Begriff TM ist auch Titel von historischen und dramatischen Werken des 17. und 18. Jhs. In Calderón de la Barcas Das große Welttheater (1645, gedruckt 1675) etwa bereitet „Gott sich und seinem himmlischen Hofstaat ein Schauspiel: Die Bühne ist die Welt, die Schauspieler sind die Menschen. Das Stück, das gespielt wird, ist das Leben. Wenn es zu Ende ist, ruft der Tod die Spieler von der Bühne ab. Gott, der Spielmeister, aber hält Gericht.“ (Alewyn 60)

Zugleich wurde das gesamte Leben an den europäischen Höfen wie eine Theateraufführung inszeniert, als eine Folge höchst kunstvoller Inszenierungen und Selbstinszenierungen, was u. a. – um die gewünschte ,Rolle‘ spielen zu können – eine starke Affektkontrolle auf Seiten der Mitglieder der höfischen Gesellschaft voraussetzte (vgl. Elias). Nur die richtige ,Maske‘ garantierte in dem dichten Geflecht höfischer Abhängigkeiten auf Dauer gesellschaftlichen Erfolg. Alewyn nennt das höfische Leben darum „totales Fest“ (Alewyn 14). Die höchste Steigerung erfuhr diese Theatralisierung des Lebens in den opulenten barocken Festen (etwa Ludwigs XIV. zwischen 1660 und 1674 mit dessen Selbstdarstellung als ,Sonnenkönig‘), deren integraler Bestandteil Theateraufführungen (z. B. der Truppe Moliéres) waren.

Interessant für thp Zusammenhänge kann der umfassende Charakter des Spiel-, Rollen- und Theaterbegriffs des TM sein. Ihn hat u. a. Jean-Paul → Sartre als säkularisiertes Erklärungsmodell und -symbol für das Problem der menschlichen Existenz schlechthin verwendet. „Das Spiel steht am Ursprung der Welt. Es gibt Welt […], wenn kollektive Konventionen die Spielregeln  festsetzen.  Das  einzige  Resultat dieser Konventionen, die absurd und grundlos sind, besteht darin, die menschliche Aktivität auf allen Gebieten in ein Ballett zu verwandeln.“ (Sartre 200) So ist bei Sartre „planvolles, zielbewußtes Handeln, das die Geschichte manifestiert, nur vor dem Hintergrund der subjektiven Komödie zu begreifen, als ein Spiel (theatrum mundi), in dem der einzelne ständig seine Rolle definiert, verwirklicht und überschreitet“ (Roloff 100). Die u. a. bei → Goffman, Sennett und Jauß diskutierte Umwertung des überkommenen Rollen- und Maskenbegriffs ist insofern bei Sartre bereits eingelöst, weil jede deterministische Fixierung der Rolle, streng im Sinne der antiken Bedeutung von persona (Rollenmaske) gefasst, von vornherein verhindert wird (vgl. Zimmermann).

Alewyn, Richard: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. Berlin 1985; Brauneck, Manfred: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 2. Stuttgart, Weimar 1996; Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1983; Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München, Zürich 1983; Jauß, Hans Robert: Ästhetischer und soziologischer Rollenbegriff. In: Ders.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. München 1977; Roloff, Volker: Existentielle Psychoanalyse als theatrum mundi. In: König, Traugott (Hg.): Sartre. Ein Kongreß. Reinbek 1988; Sartre, Jean-Paul: Saint Genet. Komödiant und Märtyrer. Reinbek 1982; Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a. M. 1983; Zimmermann, Rainer E.: Theatrum Mundi. Theorie und Praxis einer Sartreschen Metapher. In: Prima Philosophia. Cuxhaven, Dartford. 1998, H.  3.

MARIANNE STREISAND

Illusion im Theater – Rollenspiel – Theaterhistoriographie