Volksstück
Ab der zweiten Hälfte des 18. Jhs. wurden die Volkstheater sesshaft. In Wien entstanden Vorstadttheater, die ein Massenpublikum anzogen. Vom Wiener Volkstheater gingen in der Folgezeit entscheidende neue Impulse aus: Johann Nepomuk Nestroy z. B., dessen Stücke vor allem im Vormärz und um die Zeit der bürgerlichen Revolution 1848 entstanden, verspottet die untergehende Zauberwelt der vorindustriellen Feudalzeit und ersetzt sie durch die neue Macht des Geldes. Ein Neues Volkstheater entsteht: Die Menschen auf der Bühne sind keine liebenswerten Bürger mehr, sondern Ausgestoßene am Rande der Gesellschaft, die entweder ihre Anpassung teuer bezahlen müssen oder sich bewusst außerhalb stellen. Nestroy bezeichnete die meisten seiner Stücke nicht als V, sondern als Posse, gekennzeichnet ist sie durch Sprachkomik, Groteske und parodistische Elemente. Mit derbem und bissigem Witz und sprachlicher Satire gestaltet er Stücke, in denen sowohl Personal als auch Sujet aus dem Volk stammen. Dabei muss Volkstheater hier in der Absetzung zum Bildungstheater (wie es am Wiener Burgtheater gepflegt wurde) gesehen werden, das einen ,hohen Stil‘ anstrebte und die Rolle eines nationalen Theaters beanspruchte. Die Lokalposse dagegen hatte regionale Bezüge, was Verortung, Figurenzeichnung und Sprache anbelangt, hier wurde bewusst ein ,niederer Stil‘ gepflegt. Durch unterhaltende Elemente wie Komik, → Pantomime, Musik und Tanz sowie ein versöhnliches, höchstens leicht gebrochenes Happy End, wurde ein breites Publikum angesprochen. Die Stücke unterlagen einer strengen politischen Zensur, wobei diese durch Einfügung improvisierter Texte häufig umgangen wurde. Nestroys Volkstheater hatte großen Einfluss auf die Entwicklung des Neuen Volkstheaters im 20. Jh.
Zwischen 1850 und dem Ende des 1. Weltkrieges entwickelt sich das Volkstheater im ernsten realistischen V weiter. Naturalistische Autoren wie Ludwig Anzengruber, Gerhart Hauptmann und Ludwig Thoma wenden sich jetzt vor allem Themen des dörflichbäuerlichen Lebensbereiches zu. Die Stücke beschäftigen sich nicht mit Idylle, sondern mit realen Problemen der Landbevölkerung, knüpfen so stärker an das Bauerntheater als an das städtisch ausgerichtete Vorstadttheater an. Da tragische Konflikte ins Zentrum rücken und unterhaltsame Elemente eher zurücktreten, entstehen ernste V, weniger moralisierend als tendenziell gesellschaftskritisch. Die Figuren sprechen Dialekt, der zwar lebensecht wirkt, aber ästhetisch konstruiert ist. Aus diesen Gründen schaffen es diese ,Neuen V‘, die sich inhaltlich stärker mit den Menschen aus dem ,Volk‘ auseinander setzen, nicht, dieses auch zu erreichen. Die Stücke werden hauptsächlich vor einem bürgerlichen Publikum in den neuen städtischen Volkstheatern aufgeführt, dessen eigene Lebenssituation sich deutlich von der gezeigten unterscheidet.
Nach dem 1. Weltkrieg findet eine Erneuerung des V statt. Carl Zuckmayer erregt z.B. mit Der fröhliche Weinberg Aufsehen. Während die Nationalsozialisten sich gegen das Stück empören, wird es von den Zuschauern begeistert aufgenommen. Zuckmayers Stücke (u. a. Schinderhannes, Der Hauptmann von Köpenick) sind mit kritischer Absicht verfasst, bewusst werden zugleich viele romantische Klischees der sog. Volkstümlichkeit bedient.
Marieluise Fleißer schildert in den Theaterstücken Fegefeuer in Ingolstadt und Pioniere in Ingolstadt die bedrückende Atmosphäre ihrer Heimatstadt. Sie zeigt, wie Pressionen schon von jungen Menschen an Schwächere, Außenseiter und Frauen weitergegeben werden. Die Figuren sind verfremdet, die Sprache ist in hohem Maße künstlerisch ‚verarbeitet‘: „Da nahm ich die Umgangssprache als Spracherlebnis und versuchte sie zu reiben, bis sie vor Lebendigkeit sprühte“ (Fleißer zit. n. Simhandl 236). Fleißers Stücke waren nicht als V konzipiert, wurden aber von der Kritik als solche bewertet; sie spielte für die neuerliche ,Erneuerung des Volkstheaters‘ in den 1960er/70er Jahren eine wichtige Rolle.
Eine bewusste Erneuerung des V strebte Ödön von Horváth an. Fragen des Volkes, seine ‚einfachen‘ Sorgen, sollten mit den Augen des Volkes gesehen werden. Ein V müsse im besten Sinne ‚bodenständig‘ sein. Horváth betont, dass seine Stücke von heutigen Menschen handeln. Da der Typus des Kleinbürgers neunzig Prozent der Bevölkerung ausmache, müsse er auch das Personal seiner V stellen. Es geht dem Autor um die Demaskierung des (falschen) Bewusstseins, ohne damit direkt politisch agitieren zu wollen. Der Zuschauer soll sich selbst erkennen, wie es im Vorwort zu Glaube Liebe Hoffnung heißt. In Horváths V tritt an Stelle des Dialektes die Sprache eines Menschen, der sonst nur Dialekt spricht und sich nun zwingt, hochdeutsch zu reden, der ,Bildungsjargon‘. Wie bei Fleißer sind Frauen die Opfer, die als schwächstes Glied an der Gesellschaft und dem Egoismus der Männer zerbrechen. In Stücken wie Geschichten aus dem Wienerwald, Italienische Nacht, Kasimir und Karoline realisierte Horváth überzeugend seine Vorstellungen von einem neuen V. Trotzdem wurde er sowohl von rechts (,Volksverräter‘) wie von links (zu satirisch, beschreibend, individualistisch, fatalistisch) massiv angegriffen. Sein Wunsch, dass sich die von ihm verkörperten Kleinbürger seine Stücke ansehen und sich selbst erkennen würden, erfüllte sich nicht.
Bertolt Brecht wünscht sich das ,neue‘ V naiv, aber nicht primitiv, poetisch, aber nicht romantisch, wirklichkeitsnah, aber nicht tagespolitisch. Das Theater müsse begreifen, V nicht mit der ,Routiniertheit des Dilettantismus‘ abzuspielen, sondern es müsse für die Gattung einen echten Stil entwickeln, der aus einer Synthese von Realismus, Artistik und Stilisierung zu gewinnen ist (vgl. Brecht [1938], [1952], 1953).
Volkstheater soll aus seiner kruden Anspruchslosigkeit befreit werden. Volkstümlichkeit wird im Gegensatz zur faschistisch-mystischen Volkstumsideologie als kritisch und kämpferisch definiert. Verhältnisse sollen nicht nur beschrieben, sondern als veränderbar gezeigt werden. Brecht nannte nur Herr Puntila und sein Knecht Matti als V, wobei man auch die Stücke Mutter Courage und ihre Kinder, Schweijk im zweiten Weltkrieg und Der kaukasische Kreidekreis als V bezeichnen könnte.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde auch das Volkstheater Teil der faschistischen Ideologie. Das harmlose, volkstümliche Heimattheater ließ sich dabei leichter funktionalisieren als das ,neue, kritische Volkstheater‘, dessen Vertreter im harmlosesten Fall Schreibverbot erhielten oder ins Exil gehen mussten.
Die Folgen von Faschismus und Krieg gingen auch und gerade am Volkstheater nicht spurlos vorüber. Einerseits herrschte Hunger nach harmloser, unverfänglicher Unterhaltung, andererseits war es nahezu unmöglich geworden, unbelastet Volksoder Heimattheater oder auch nur Komödie zu spielen. Doch hier sprang ein neues Medium ein: das Fernsehen. Es präsentierte unterhaltsame Familienserien, die sich am Muster des trivialen Volkstheaters orientierten. Außerdem erhielten dem Schwank verpflichtete Bühnen wie das Millowitsch- und das Ohnsorg-Theater einen festen Platz; sie boten pure Unterhaltung. Regionales Theater wurde national verfügbar gemacht und dem Geschmack des nun wirklich breiten Publikums angepasst. Den Formen des Fernseh-V ist gemeinsam, dass gleichsam nur Scheinkonflikte vorgeführt werden: Außenseiter werden angepasst oder ausgestoßen. Wieder folgt die Geschichte des Volkstheaters der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung. War es den Deutschen lange Zeit auch mit dem Mittel des Theaters nicht möglich, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, so verändert sich die Situation in den 1960er Jahren, als eine Generation herangewachsen war, die von ihren Eltern Rechenschaft über die Vergangenheit forderte. Es entstand die außerparlamentarische Opposition, ein neues politisches Bewusstsein. Um 1965 beginnt erneut eine Welle des Neuen Volkstheaters, gleichzeitig mit der Wiederentdeckung der Stücke von Fleißer und Horváth. Martin Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern ist das erste dieser V. Die äußere ländliche Idylle steht im Kontrast zur Brutalität der Dorfbewohner, die sich gegen Minderheiten stellen. Hier offenbart sich eine noch nicht überwundene faschistische Grundhaltung. Sperr möchte die Wirklichkeit reflektieren und verändern, aber gleichzeitig dem Zuschauer die Bewertung überlassen.
Franz Xaver Kroetz ist der erfolgreichste und produktivste Vertreter des kritischen Volkstheaters in den 1970er Jahren. Innerhalb von zwanzig Jahren schreibt er etwa vierzig Stücke (u. a. Wildwechsel, Oberösterreich, Agnes Bernauer, Bauernsterben). Er sucht die Nähe zu tradierten Formen des Volkstheaters, meidet aber die verharmlosende und rein unterhaltende Funktion. Er will keine Harmonisierung der Widersprüche, sondern Betroffenheit. Dabei bezieht er sich explizit auf Fleißer und Horváth, später auch auf Brecht. Seine Stücke handeln zwar vom Volk, aber sie wenden sich nicht direkt an das Volk als Adressat. Darin gibt sich Kroetz keinen Illusionen hin. Aus dem Bewusstsein, etwas an der gesellschaftlichen Realität verändern zu wollen, betätigt sich Kroetz politisch, kapituliert aber nach einiger Zeit und zieht sich in das Private zurück. Peter Turrini schuf mit Rozznjogd und Sauschlachten V, die einerseits in der Tradition des Wiener Volkstheaters standen und ein breites Publikum ansprechen wollten, was in einem gewissen Maß zunächst gelang. Andererseits führten die Aufführungen zu großen Theaterskandalen und Polarisierungen, letztlich erreichte Turrini nur eine Minderheit. Deshalb experimentierte er mit Klassikerbearbeitungen (Der tollste Tag, Campiello u. a.) und Produktionen für das Fernsehen (Alpensaga). Neuere Stücke sind Die Minderleister und Alpenglühen.
Felix Mitterer interessiert sich vorrangig für Außenseiter und Ausgestoßene. Stigma und Sibirien zählen neben Kein Platz für Idioten zu seinen bekanntesten Stücken. Sie wurden auch von Tiroler Volkstheatern, die auf eine sehr lange Tradition zurückblicken können, inszeniert und konnten so ein breites Publikum erreichen.
Fitzgerald Kusz ist einer der bekanntesten Autoren des zeitgenössischen V. Er brachte es u.a. mit Schweig Bub und Derhamm ist derhamm auf unzählige Inszenierungen im deutschsprachigen Bereich, und zwar sowohl bei professionellen Theatern wie bei → Amateurtheatern. Seine populären und doch auch kritischen Stücke beziehen ihre Themen nicht nur aus dem ,Volk‘, sondern schaffen es auch, dieses ,Volk‘ zu erreichen. Seine Texte wurden aus dem Fränkischen in zahlreiche andere Dialekte übertragen.
Kerstin Specht schuf mit Amiwiesen, Das glühend Männla und Lila Texte, deren Nähe zu den V Horváths unverkennbar sind.
Eine interessante Fortsetzung der Tendenzen des V und des Neuen Volkstheaters findet sich ab den 1960er Jahren in der Etablierung eines → Freien Volkstheaters.
Aust, Hugo/Haida, Peter/Hein, Jürgen: Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart. München 1989; Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek 1986; Brecht, Bertolt: Volkstümlichkeit und Realismus. [1938]. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 19: Schriften zur Literatur und Kunst 2. Frankfurt a. M. 1967; Ders.: Anmerkungen zum Volksstück. [1952] In: ebd., Bd. 17: Schriften zum Theater 3. Frankfurt a. M. 1967; Ders.:
,Katzgraben‘-Notate 1953. In: ebd., Bd. 16: Schriften zum Theater 2. Frankfurt a. M. 1967; Klotz, Volker: Dramaturgie des Publikums. München, Wien 1976; Ders.: Bürgerliches Lachtheater. Komödie – Posse – Schwank – Operette. Hamburg 1987; Schmitz, Thomas: Das Volksstück. Stuttgart 1990; Simhandl, Peter: Theatergeschichte in einem Band. Berlin 1996.
WALTER MENZLAW
→ Arbeitertheater