Zimmertheater
Die kleine Theaterform erfreut sich in Geschichte und Gegenwart besonderer Beliebtheit für private oder gemeinschaftliche – etwa familiäre oder kleingruppenspezifische – Amateurtheateraufführungen, aber auch für semiprofessionelle Inszenierungen oder Berufstheater. Künstlerische, soziale oder politische Experimente – bezogen u. a. auf das Ausprobieren neuer Formen oder die Aufführung verbotener Texte – sind mit vergleichsweise geringem Aufwand im Z zu erstellen. Handelt es sich tatsächlich um Privatzimmer, ist eine staatliche oder künstlerische Zensur ausgeschlossen; Tantiemen müssen nicht gezahlt werden. So wurden etwa in der DDR zahlreiche Stücke, die für die öffentliche Publikation zunächst nicht zugelassen waren, in Schreibmaschinen-Abschriften kursierten und als oppositionell galten, in größeren Ostberliner, Leipziger oder Dresdner Altbauwohnungen vor geladenen Gästen aufgeführt. Ähnliches ist zu Zeiten von Diktaturen aus vielen Städten der Welt bekannt. Aber auch Goethe inszenierte etwa im Privathaus des Freiherrn von Helldorf und am Hof in Weimar nach 1800 zahlreiche Z-aufführungen mit ,Tableau vivants‘ (,Lebenden Bildern‘) nach antikisierenden Gemälden vor einer geladenen Weimarer Hofgesellschaft (vgl. Jooss; Folie); Ziel war u. a. auch, sich selbst als ‚Musenhof‘ zu etablieren. Privataufführungen in Z gelten der Konstitution und Besinnung einer bestimmten Gemeinschaft auf sich selbst nicht weniger als dem künstlerischen, sozialen oder politischen Engagement.
Weniger bekannt ist, dass um 1900 diese halböffentlichen Theaterformen mit gering gehaltener Anzahl von Schauspielern und Zuschauern zu der innovativen Theaterform der Moderne schlechthin erklärt wurden. 1888 formulierte August Strindberg im Vorwort zu ,Fräulein Julie‘ das Programm eines Z, das als ein Höhe- und Umschlagpunkt der jahrhundertealten Sehnsucht nach der → Illusion im Theater betrachtet werden kann. Strindbergs Überlegungen beziehen sich allerdings ausschließlich auf das professionelle Theater, das nun seine Öffentlichkeit zu ‚leugnen‘ begann (vgl. Sennett). Intimität sollte hier auf allen Ebenen des kunstkommunikativen Prozesses realisiert werden. Strindberg plädierte für die Kleinformatigkeit des Z mit der minimierten Bühne, die Atmosphäre von Konzentration und Distinktion unter den wenigen, aber gebildeten Zuschauern, für eine psychologisierende, zurückgenommene Spielweise von Schauspielern, die die Fiktion der ,vierten Wand‘ als oberstes Prinzip achten und in keinerlei direkte → Kommunikation mit dem Publikum eintreten sollten; für eine Dramaturgie und Sprache der Texte, die in die feinziselierten Verästelungen der Seele des disparaten Ich eindringen und „die Gehirne unregelmäßig arbeiten [lassen], wie sie es in Wirklichkeit tun“ (Strindberg 1991, 62).
Der Autor Max Halbe gründete unter deutlichem Bezug auf Strindberg 1895 in München das erste so benannte ,Intime Theater‘ als Z. Es handelte sich dabei im Grunde um eine Liebhaberaufführung in einem privaten Salon vor ca. 40 geladenen Gästen – der Münchner Boheme. Gespielt wurde von den intellektuellen Amateuren Strindbergs Einakter Gläubiger (1888), und wie die Szene Ein Salon in einem Badeort (Strindberg 1917, 52) war, so war ein Salon die Aufführungsstätte. Das Ereignis wurde aber von Halbe zur Geburtsstunde einer völlig neuen Theaterästhetik stilisiert. Es handle sich um „eine Spezialbühne […] für Künstler und womöglich von Künstlern, eine Bühne, […] wo Könner und Kenner unter sich sind, ein intimes Theater“ (Halbe 109). Dabei gehe es um einen Zusammenschluss der „Reifen und Feinen“ (ebd. 107), um einen Rückzug aus der Öffentlichkeit und – wie Julius Kulka bereits 1892 gefordert hatte – um die Herauslösung der Kunst aus „von rein kaufmännischen Gesichtspunkten geleiteten Geschäftsunternehmen“ (Kulka 73). Kunst sollte nicht zur Ware degradiert werden. In seinem Essay hatte er radikal formuliert:
„Denn das Publikum verdirbt alles. […] Das Publikum ist der Feind. […] Das Theater der Zukunft ist das vom Publikum emanzipierte Theater“ (ebd.). Deutlich wird, dass dem Phänomen der ,Intimität‘ wie deren theaterkünstlerischem Ausdruck des Z immer auch ein Moment von Distinktion und Ausschließung eigen ist.
In Konkurrenz zu den neu entstandenen → Medien, insbesondere dem Film ab 1895 (der von den Intellektuellen der Zeit zunächst als reine Ästhetik der Oberfläche diskreditiert wurde) und in Ablehnung der urbanen Massengesellschaft versuchte man, das alte Medium Theater noch einmal als eine Sinneskultur der besonderen seelischen Tiefe, der Langsamkeit, der faceto-face-Kommunikation, der visuellen und räumlichen Nähe, der kleinen Gemeinschaft usw. zu institutionalisieren.
Die Begeisterung für das Z korrespondierte um 1900 mit dem Aufstieg von Phänomen und dem Begriff der ,Intimität‘ zu einem künstlerischen Prinzip und einer kunsttheoretischen Beschreibungskategorie. So hieß es 1905 in der 6. Auflage von ,Meyers Konversationslexikon‘, intim bedeute „innig, vertraut“, sei gegenwärtig „auch ein Schlagwort der modernen Kunst“ (Meyer 894). Davon war in der 5. Auflage des Lexikons von 1897 noch keine Rede und wird es auch in späteren Auflagen nicht mehr sein. Offensichtlich feierte der Begriff ,intim‘ um 1900 eine kurze Blütezeit zur Beschreibung moderner Kunst, die er vorher und nachher nicht mehr erreicht hat. Er wurde zum Modewort. Um das Jahr 1890 profilierte sich der Terminus im Kontext verschiedener kunsttheoretischer Entwürfe der ,Moderne‘. Er wurde von allen Stilrichtungen der Zeit wie Naturalismus, Décadence, Fin de siècle, Neoromantik, Impressionismus, Symbolismus erfasst und auf alle Künste – die Bildende Kunst, Literatur, Musik, den Tanz, aber auch auf die Architektur (besonders die Innenarchitektur) – angewandt. Sein Zentrum aber fand die Gestaltung einer umfassenden intimen Ästhetik im Theater, das Z ist ihr legitimster Ausdruck.
Am berühmtesten sind die 1902 unter dem Namen ,Kleines Theater‘ und 1906 als ,Kammerspiele des Deutschen Theaters‘ von Max Reinhardt in Berlin begründeten und architektonisch sowie technisch – nach den Grundzügen des Strindbergschen Programms von 1888 – umgestalteten Z. Dabei sind die ursprünglich als ,Intimes Theater‘ geplanten, dann aber in Anlehnung an die ,Kammermusik‘ so benannten ,Kammerspiele‘ allein in innenarchitektonischer Hinsicht ein Muster intimer Ästhetik.
1906 war bestimmendes gestalterisches Prinzip des Z ,Kammerspiele‘ Reduzierung, Konzentration bei gleichzeitiger Distanzierung und Vornehmheit. Der Zuschauerraum fasste bei der Eröffnung nur etwas mehr als 300 Zuschauer, war in warmen dunklen Rot-, Braun- und Goldtönen gehalten, kein Schmuck oder Stuck lenkte vom Bühnengeschehen ab. Breite, bequeme ,Klubsessel‘ (vgl. Stahl) schufen für jeden einen angemessenen personal room. Der Kritiker Siegfried Jacobsohn schwärmte damals: „Wer hier nicht jubelt, fälscht seinen Eindruck […]. Der Zuschauerraum ist […] durch kein Orchester, keinen Souffleurkasten von der Bühne getrennt und hat es darum leicht, von unvergleichbarer Geschlossenheit und Intimität zu sein.“ (Jacobsohn 319f.) Ein Paradoxon stellte die berühmte Stufe zwischen abgesenktem Bühnenboden und Parkett dar. Zwar symbolisierte sie ,Distanzlosigkeit‘ der Gemeinschaft zwischen Kunstproduzenten und -rezipienten („das Theater grenzt an den Salon“, hieß es in einer Kritik; Klaar 326), ihre faktische Benutzung aber war nicht intendiert. Hier hatte gerade der Disziplinierungsversuch gegenüber dem Publikum seinen Höhepunkt erreicht. Zur Herstellung einer ,Erlesenheit‘ der sich vereinigenden Kunstgemeinde gehörten Frackzwang für die Herren und Abendgarderobe für die Damen ebenso wie extrem hohe Eintrittspreise (vgl. Huesmann 18). War es beim ersten ,Intimen Theater‘ 1895 konzeptionelles Anliegen, Kunst und Kommerz auseinander zu halten, so war man nun – wie Alfred Kerr kommentierte – nicht nur „intim“, sondern auch „finanzbehaglich“ (Kerr 18). Was hier im entstehenden Theaterkonzern Reinhardt stattfand, war erstmals das Geschäft mit der künstlerischen Intimität. Die Begeisterung für die künstlerische Intimität wurde schon um 1910 durch eine neue Favorisierung der Monumentalität ersetzt, z. B. in Wassily Kandinskys Programmschrift Über das Geistige in der Kunst (1911/12) oder im Expressionismus. Das Z verlor seine bevorzugte ästhetische Position; sie wurde nun durch die Vorliebe für Massenaufführungen besetzt. So inszenierte derselbe Max Reinhardt 1910 König Ödipus von Sophokles/Hofmannsthal mit Hunderten von Komparsen und vor 5 000 Zuschauern u. a. im Berliner ,Zirkus Schumann‘; hier war, wie es in einer Theaterkritik hieß, „die Masse alles, […] Subjekt und Objekt“ (Engel 402).
Das Z integrierte sich ins Arsenal der Kunstformen und wurde zu einer Spielstätte unter anderen. Die Möglichkeiten, auf die es hingewiesen hatte – etwa das besonders nahe und konzentrierte Studium der Physiognomie des Schauspielers mit dem Zentrum des ,Augenspiels‘ als besonderer Schnittstelle zum Seelischen – wurde später vom Medium Film perfektioniert.
Engel, Fritz: Theaterkritik im Berliner Tageblatt, Nr. 261 (8.11.1910.). In: Fetting, a.a.O.; Fetting, Hugo (Hg.): Von der ,Freien Bühne‘ zum ,Politischen Theater‘. Drama und Theater im Spiegel der Kritik, Bd. 1. Leipzig 1987; Folie, Sabine/Glasmeier, Michael (Hg.): Tableaux Vivants. Lebende Bilder und Attitüden in Fotografie, Film und Video. Katalog der Kunsthalle Wien. Wien 2002; Halbe, Max: Intimes Theater. In: Pan, 1895, H. 2; Huesmann, Heinrich: Welttheater Reinhardt. Bauten, Spielstätten, Inszenierungen. München 1983; Jacobsohn, Siegfried: [Theaterkritik zu Ibsens ,Gespenster‘]. In: Die Schaubühne, Nr. 45 (15. 11. 1906.). In: Fetting, a.a.O.; Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit. Berlin 1999; Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst. Bern 1952; Kerr, Alfred: Ein Kammerspiel (und die Duse). In: Ders.: Mit Schleuder und Harfe. Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten. Hg. v. Hugo Fetting. Berlin 1981; Klaar, Alfred: [Theaterkritik zu Ibsens ,Gespenster‘]. In: Vossische Zeitung, Nr. 528 (10. 11. 1906). In: Fetting, a.a.O.; Kulka, Julius: Theaterreform. In: Freie Bühne für modernes Leben, 1892, H. 1; Meyers Konversationslexikon, Bd. 9. Leipzig, Wien 1905; Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a. M. 1991; Stahl, Franz: [Theaterkritik zu Ibsens ,Gespenster‘]. In: Berliner Tageblatt. Morgen-Ausgabe, Nr. 571 (9. 11. 1906); Streisand, Marianne: Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der ,Intimität‘ auf dem Theater um 1900. München 2001; Strindberg, August: Gläubiger. In: Ders.: Werke, Abt. Dramen, Bd. 4. München, Leipzig 1917; Ders.: Vorwort zu ,Fräulein Julie‘. In: Ders.: Fräulein Julie. Naturalistisches Trauerspiel. Stuttgart 1991.
MARIANNE STREISAND
→ Avantgarde – Dramaturgie – Geselligkeit – Gruppe – Kunsttheater – Off-Theater – Theater als öffentliche Institution – Theaterhistoriographie