ZuschauSpieler

Trotz aller unterschiedlichen Entwicklungen der Theaterkunst und Theaterformen seit der Antike ist eine Komponente konstant geblieben: „Das Publikum als Gemeinschaft der Zuschauer ist die Voraussetzung für den theatralischen Wirkungsprozess. Zwischen Theater als → Spiel und dem Publikum als Zuschauern besteht eine dialektische Beziehung. Theater ist stets Spiel vor Zuschauern, erst in der Spannung von Spielen und Zuschauen ereignet sich die Theaterhandlung. In der Geschichte wandeln sich vielfach soziale Strukturen und die Form der kommunikativen Beteiligung des Publikums; der Grundbezug von Spiel und Zuschauen blieb davon unberührt.“ (Körner  703)

Der Begriff Z anstelle Zuschauer fokussiert eine ganz spezifische Form der kommunikativen Beteiligung. Der Begriff beinhaltet über das Zuschauen hinaus eine aktive, spielende Beteiligung des Publikums am Theatergeschehen,  wie  es  im → Mitspieltheater praktiziert wird.

Vorläufer für das Mitspieltheater sind unterschiedliche Theaterformen, die das dialektische Verhältnis zwischen Spielenden und Publikum in ein dialogisches verwandeln. In Formen des → Volkstheaters geschah dies eh und je durch Zwischenrufe und Kommentare des Publikums, auf die die Schauspieler mit Extempores reagierten.

In der Geschichte des 20. Jhs. lassen sich für dieses dialogische Prinzip zwei Stränge verfolgen. Der eine resultiert aus dem Versuch einer Demokratisierung des Theaters, indem die vierte Wand aufgehoben wird zugunsten einer – meist verbalen – Einbeziehung des Publikums. Beispielgebend dafür ist das in den 1960er Jahren entwickelte und bis heute gespielte Kriminalstück Scherenschnitt von Paul Pörtner. Der Autor konfrontiert das Publikum mit einem Mordfall und ruft es als Zeugen gegen die Verdächtigen auf. Der Schuldige konnte dadurch bei jeder Vorstellung eine andere Person sein.

Ebenfalls bis heute wirkt eine andere Form nach, die u.a. Augusto → Boal mit dem → ,Theater der Unterdrückten‘ für seinen politischen Kampf in Brasilien einsetzte und diese später im europäischen Exil erweiterte: „In mir und in jedem anderen steckt Veränderungskraft. Diese Fähigkeiten will ich freisetzen und entwickeln. Das bürgerliche Theater unterdrückt sie […]. Ich finde, dass es neben einem kathartischen Effekt einen geben muss, der den Zuschauer aktiv werden lässt.“ (Boal 159) Hier sind vor allem das → Statuentheater und das → Forumtheater zu nennen, in denen aktuelle Themen, die das jeweilige Publikum betreffen, auf unterschiedliche Weise diskutiert und Lösungsvorschläge mit theatralen Mitteln erarbeitet werden.

Der zweite Strang zur Entwicklung von Mitspieltheaterformen hängt zusammen mit dem Nachdenken über → Kinder und Jugendtheater und seine pädagogischen Möglichkeiten, auch vor dem Hintergrund der Andersartigkeit  im  Zuschauverhalten  von Kindern:

„Kinder fühlen sich im Theater nicht nur als Zuschauer, sondern auch als Mitwirkende an den Ereignissen. Sie haben doch oft erlebt, wie sich Kinder in den Vorstellungen ihres Theaters in die Handlung einmischen, wie sie den handelnden Personen Ratschläge geben. Ich möchte jetzt einmal die Aktivität der Kinder zur bewegenden Kraft für die Entwicklung der Handlung machen“, schrieb Sergej Rosanow 1924, Regisseur des ersten sowjetischen Kindertheaters in Moskau (zit. n. Hoffmann 55). Auch Bertolt Brecht schlug 1930  im  Zusammenhang  mit  seinen → Lehrstücken vor, „die jungen Leute zugleich zu Tätigen und Betrachtenden zu machen“ (zit. n. Hoffmann 104).

Aufgrund der Erfahrungen des sozialistischen Kindertheaters entwickelte Walter Benjamin 1926 sein, Programm eines proletarischen Kindertheaters‘. Es bildete den theoretischen Hintergrund der Diskussionen um ein emanzipatorisches Kindertheater und führte nach 1968 in der BRD zur Gründung eigenständiger Kindertheater, die Ideen der Spiel- und Interaktionspädagogik aufgriffen. Melchior Schedler forderte: „Wir brauchen ein Kindertheater, das aus seinem Publikum Akteure macht und aus den Akteuren lernende Zuschauer.“ (Schedler 32)

Während das führende ,Grips Theater‘ in Berlin beim Vorspieltheater blieb, entwickelten ,Die Birne‘ und ,Die Rote Grütze‘, ebenfalls Berlin, sowie überall in der Republik entstehende neue Kindertheater Stücke, die eine aktive Beteiligung der zuschauenden Kinder vorsahen. „Die aktive Beteiligung der Kinder am Spiel geschieht aus der oft antiautoritär begründeten Kritik an der traditionellen Erziehungspraxis.“ (Hentschel 370) Exemplarisch dafür steht das Aufklärungsstück der ,Roten Grütze‘ Darüber spricht man nicht (1977). Entsprechend stand auch das pädagogische Ziel im Vordergrund und die Art der Beteiligung der Kinder war weitgehend auf Sprechhandeln beschränkt, weshalb eher von einem Mitmachtheater gesprochen werden kann.

Die künstlerischen Mittel des → Mediums selbst – Kostüme,  Rolle,  Requisiten, Bühnenraumgestaltung wurden den Kindern nicht zur Verfügung gestellt, die Kinder nahmen keine fiktiven Spielrollen ein. „Es sieht so aus, als ließe sich ein reziprokes Verhältnis zwischen dem  Anteil  realer → Interaktion  mit  den Zuschauern und dem Darstellungsanteil konstatieren. Die pädagogischen Intentionen der Theatermacher sind um so weniger garantierbar einzulösen, je mehr szenische Präsentationen auf der Bühne eingesetzt werden.“ (Hentschel 82)

Gerade hier eine größere Balance zu schaffen und die mitspielenden Kinder in die Theatersituation hereinzuholen, sie neben dem inhaltlichen Aspekt des Stückes das Medium Theater im eigenen Mitspiel erfahren zu lassen, war das Ziel des 1977 in Bremen gegründeten ,MoKS-Theaters‘ (Modelltheater Künstler und Schüler). Es entwickelte jährlich ein Mitspielstück. Darin wurden die Beteiligten im Verlaufe des vorgegebenen Stückrahmens und szenisch gestalteten Bühnenraumes zu Spielpartnern der professionellen Schauspieler, indem sie in Kostüme und selbst gewählte Rollen schlüpften und die Handlung wesentlich beeinflussten. Es entstanden improvisierte Szenen zwischen den Z und den Schauspielern, die aus ihrer Rollenfigur heraus auf die Spielangebote der Z improvisierend reagieren mussten. Die Stücke wurden gleichermaßen mit Kindern und Jugendlichen wie mit Erwachsenen gespielt.

Der Z macht intensivere emotionale und sinnliche Erfahrungen als der bloße Zuschauer. Er macht vor allem Erfahrungen mit sich selbst im Probehandeln der Laborsituation des Theaters. Er begegnet darüber hinaus nicht nur Schauspielern in Theaterrollen, sondern auch den anderen Z, d. h. seinen MitschülerInnen. Er lernt durch deren gewählte Rollen und Spielverhalten neue Seiten an ihnen kennen, was oft zu einer Veränderung der Klassensituation führt.

Das Mitspieltheater dieser Form braucht vier Bedingungen um zu funktionieren: eine Raumbühne, eine lange Probenzeit zur Entwicklung der Stücke, eine kleine Zuschauerzahl – in Bremen oft nur eine Schulklasse – und SchauspielerInnen, die neben ihrem Handwerk die Kunst des Improvisierens beherrschen. Diese Bedingungen waren, anders als in Bremen, meist nicht gegeben. So konnten rein ökonomisch die Produktionskosten nicht eingespielt werden, ein wesentlicher Grund dafür, dass Mitspielversuche trotz ihrer anerkannten positiven Wirkung in Bezug auf Lern -und Erfahrungszuwachs bald wieder aufgegeben werden mussten.

Boal, Augusto: Theater der Unterdrückten. Frankfurt a. M. 1979; Hentschel, Ingrid: Kindertheater. Die Kunst des Spiels zwischen Phantasie und Realität. Frankfurt a. M. 1986; Hoffmann, Christel: Theater für junge Zuschauer. Sowjetische Erfahrungen – Sozialistische deutsche Traditionen – Geschichte in der DDR. Berlin1976; Körner, Roswitha: Publikum. In: Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Reinbek 1986; Schedler, Melchior: Sieben Thesen zum Theater für sehr junge Zuschauer. In: Theater Heute, Aug. 1969.

URSULA  MENCK

Dialog  –  Illusion  im  Theater  –  Improvisation  – Mitspiel(theater) – Werkstatt – Zimmertheater